Herstory

Während der jüngeren Menschheitsgeschichte war es fürwahr nicht immer ein Vorteil, weiblich zu sein. Das war allerdings nicht immer so. Immer wieder stößt man auf eine – zugegebenermaßen etwas unübersichtliche – Zeitspanne von etwa 5.000 Jahren, in der die weibliche Hemisphäre sukzessive zurückgedrängt, beschnitten, diskriminiert wurde. Wiewohl es freilich auch in den dunkelsten Phasen dieses Zeitabschnitts, nehmen wir z.B. die Hexenverfolgung, immer auch Lichtblicke gab. Von Dichterinnen, Schreiberinnen, Äbtissinnen oder Hildegard v. Bingen ist die Rede – indes selbstverständlich immer nur von Kirchenmannes Gnaden. Priesterinnen (sozusagen Vorläuferinnen der späteren Frauenorden) begegnen uns in der griechischen und römischen Antike zuhauf. Auch Heilerinnen sind keine Seltenheit und selbstverständlich auch einige Herrscherinnen. Alleine, das Quantum überzeugt nicht so recht, verglichen mit den männlichen Potentaten.


Von Jost-Alexander Binder

Natürlich war es vor den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts sowohl für Frauen als auch für Männer nicht gerade leicht, sich abseits standesrechtlich vorgezeichneter Lebenswege zu entfalten. Mit anderen Worten: dass es für die Berufswahl von entscheidender Bedeutung ist, ob man mit einem „goldenen Löffel“ zur Welt kommt, also wo und wann und in welchem Milieu, hat sich letztlich bis heute nicht geändert; wenngleich mit einigen Modifikationen, zugegeben.

Die Möglichkeiten, sich im Sinne einer gewissen Innovations- und Abenteuerneigung dennoch einem tief aus dem Innersten kommenden Lebensentwurf hinzugeben, war für Frauen dennoch ungleich schwerer als für Männer. Waren doch – von wenigen Ausnahmen abgesehen – sämtliche kirchlichen und weltlichen Hierarchien, wie auch die kaufmännischen, handwerklichen, militärischen und kulturellen Claims bereits von bzw. für Männer abgesteckt.

In der antiken Welt hielt man es immerhin für angemessen bzw. notwendig, zumindest den Götterhimmel mit weiblichen, sehr mächtigen weiblichen Vertreterinnen zu bestücken. Der Vormarsch der monotheistischen Religionen gebot dann jedoch auch in Sachen Spiritualität die strikte Dominanz des Patriarchats. Dienen durften dem männlichen Gott in Haus, Kirche oder Kloster freilich auch die Frauen; und eine erkleckliche Anzahl von Wallfahrtsorten huldigt letztlich auch einer Frau: der sog. Gottesmutter.

Alles in allem aber wird man das Gefühl nicht los, dass das jahrhundertelange Kleinhalten weiblichen Potentials System hat, oder bekommt. Warum eigentlich? Und wie kommt es, dass sich das „Weibliche“ diesem Unwesen so wehrlos ergibt? So wehrlos war und ist das „Weibliche“ doch gar nicht, wie jederMann bestätigen kann.

Schwaches Geschlecht?

Die kulturelle Erfindung von der Frau als „schwaches Geschlecht“ stammt vermutlich aus frühgeschichtlicher Zeit, bzw. später zurecht geschnitzter Interpretationen. Krieg bzw. gewaltsame Konflikte waren angeblich häufiger als heute (schwer vorstellbar, Anm.) und die Sesshaftwerdung habe plötzlich andere Machtstrukturen benötigt als das zuvor vorherrschende Nomadentum. Wie dem auch sei – man kann uns viel erzählen, nicht wahr? Wie aber ist es heute?

Studien belegen ganz klar, dass Frauen in kaum einem Beruf Männern leistungsmäßig unterlegen sind. „Berufe“, die bestimmte physische Voraussetzungen erfordern, mal ausgenommen. So sind Frauen kaum auf Baustellen anzutreffen und werden signifikant seltener als Türsteherinnen engagiert. Und auch als Versicherungsvertreterinnen, Soldatinnen, Dirigentinnen oder Formel-1-Fahrerinnen verdingen sich Frauen nachweislich seltener. Ist das eine Schwäche? Wohl nicht. Bestimmte Hobbies, wie z.B. Gewichtheben, das gesellige Telefonbuch zerreißen oder das schottische Baumstammwerfen, muss man nicht zwingend mit Weiblichkeit in Verbindung bringen. In kommunikativen Disziplinen, im Streitgespräch, …nennen wir es beim Namen: in „psychologischer Kriegsführung“ sind uns Frauen dagegen eindeutig überlegen. Ob es dazu Studien gibt, weiß ich nicht. Diese Erkenntnisse entspringen meinem rein evidenzbasierten Erfahrungshorizont. Als „stärkeres Geschlecht“ empfinde ich mich dabei jedenfalls nie. Am ehesten dann, wenn ich an mir weibliche Charakterzüge entdecke und auch zur Anwendung bringen kann. 

Das Yang-Imperium

War dann alles nur ein billiger Trick? Haben Männer in ihrer Ur-Angst vor einem Matriarchat wirklich all diese Register nur gezogen, um die Frauen „klein“ zu halten, um ihnen bzw. dem Mann ihre „Schwäche“ zu suggerieren und sei es notfalls mit roher Gewalt? Womöglich um eigene Schwächen zu kaschieren? Vielleicht übertreibe ich ja maßlos, aber irgendwie muss derlei Ähnliches dann doch gelungen sein. Denn die Geschichtsschreibung, zumindest die niederschwellig als Schulfach vermittelte, ist von männlicher Gewalt gepflastert: man hantelt sich von Krieg zu Krieg, von Herrschaft zu Herrschaft (nie Frauschaft wohlgemerkt), von Reich zu Reich. Zu 99% von Männern angestiftet, ausgefochten und nach reichlich Blutzoll unter leicht veränderten Vorzeichen weiterschlamasselt. Erlitten indes von Yang und Yin, denn – auch wenn es immer wieder in Vergessenheit gerät – im Krieg leidet niemand mehr, als die Zivilbevölkerung. 

Heute verehren wir Bertha von Suttner, Hannah Arendt, Rosa Luxemburg, Sophie Scholl, Anne Frank als Aktivistinnen und Pionierinnen im Namen des Friedens. Eine Internet-Seite nennt 1.000 Friedensaktivistinnen aus aller Welt beim Namen, weniger bekannte Namen. Dann muss man auch Ute Bock erwähnen, oder Yael Deckelbaum. Aber wie steinig war dieser Weg und ist es noch. Ein weiser Kenner der menschlichen Seele hat einmal in einem Interview gesagt: „Erst müssten alle Armeen der Welt abgeschafft werden, damit endlich niemand mehr Angst voreinander haben muss.“ Klingt utopisch, oder? Wissen wir doch nur zu gut, dass es sich beim Waffengeschäft um den mächtigsten aller kapitalistischen Drachen handelt, vielköpfig und scheinbar unverwundbar. Aber hätten die Frauen etwas dagegen, wenn ihre Männer, Söhne und Väter nie mehr losgeschickt würden, um andere Männer, Söhne und Väter zu töten, oder von diesen getötet zu werden? Hätten wir Männer etwas dagegen? Wie wäre es, wenn sich künftig Computerprogramme um die Vorherrschaft auf einem, warum auch immer, strategisch wichtigen Hügel im Nirgendwo prügeln. Das wäre mal eine fortschrittliche Verwendung künstlicher Intelligenz! 

Vielleicht ist Weiblichkeit, gerade aufgrund der jahrhundertelangen Unterdrückung ein geeignetes Synonym für die Toleranz gegenüber jedwedem Anderssein. Wenn es gelungen ist, die geschätzte Hälfte der Menschen dauerhaft vom Wahlrecht auszuschließen, wie schwer haben es dann erst kleinste Minderheiten! Da diese Schlussfolgerung logisch ist, wer weiß: Vielleicht empfiehlt uns eines Tages sogar eine KI, vermehrt auf Weiblichkeit zu setzen. 

Auf diese Idee kamen die Männer, die 1869 ein Verbot von Frauenarbeit forderten, wohl eher nicht. Sie fühlten sich von der weiblichen Arbeiterinnen-Konkurrenz nur allzu sehr bedrängt und fürchteten das Schrumpfen ihres Anteils am mit der Industrialisierung so attraktiv aufgegangenen Arbeitskuchen. Es war die Phase des sog. „proletarischen Antifeminismus“ und ein Frauenwahlrecht gab es noch nicht. Heute ist es nicht mehr das Recht auf Arbeit selbst (ganz im Gegenteil), heute sind es typischerweise die besser bezahlten Positionen und Berufe, die Frauen vorenthalten werden. Nicht per Verbot versteht sich, aber faktisch. Macht das einen Unterschied? 

Später aber gab man(n) sich den Frauen gegenüber „überraschend“ tolerant, was ihr Recht auf Arbeit betraf. Und zwar gleich zweimal im vergangenen Jahrhundert: während beider Weltkriege nämlich durften die Frauen die sog. Heimatfront bewirtschaften und arbeiten bis die Fließbänder glühten… oder schmolzen, während ihre Männer für die abstrusen Ideen irgendwelcher Psychopathen ins Feld zogen. Die kriegswirtschaftlich bedingte Arbeitsbewilligung war aber sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg nur befristet. Kaum waren die Kriege beendet, war es eines der ersten Anliegen, dieses Recht wieder einzuschränken. Inzwischen sogar trotz bereits bestehendem Frauenwahlrecht. Es galt, das Einkommensprivileg des Mannes um jeden Preis zu erhalten.

Ein Privileg, das erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl auch unter dem Einfluss des enormen Wirtschaftswachstums, langsam zu weichen begann: bis 1958 war es einer Frau nur mit dem ausdrücklichen Einverständnis ihres Ehemannes erlaubt, einer Arbeit nachzugehen. Und auch nach 1958 nur dann, wenn die Arbeit mit den Pflichten als Haus- und Ehefrau vereinbar war. In Deutschland. In Österreich erfolgte eine Reform des Ehe- und Familienrechts, mit der die eben beschriebene patriarchale Form der Versorgungsehe abgeschafft wurde, erst ab 1975! Und das, obwohl Frauenthemen in Österreich eine vergleichsweise längere Tradition haben: So gibt es das Frauenwahlrecht in Österreich seit 1919. Das ist im internationalen Vergleich geradezu vorbildlich. Zu den allerersten Staaten der Welt, in denen Frauen wählen durften, zählt übrigens Neuseeland (1893), in Europa war Finnland (1906) der Vorreiter. Den Gipfel der Frauenbenachteiligung bildet die Schweiz: Im für seine blitzsauber basisdemokratisch fundierte Neutralität bekannten Alpenland wurde das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt. In einem Kanton (Appenzell) sogar erst 1990! Was um alles in der Welt fürchteten die Schweizer Männer? Doch wozu in der Nachbarschaft ätzen? Auch Österreich kann längst nicht an seine einstige Vorreiterrolle anschließen: Der Gender-Pay-Gap (die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen im gleichen Beruf) beträgt in Österreich aktuell noch immer ca. 19%. Das ist der unrühmlich zweithöchste Wert innerhalb der EU!

Und doch sind Jahreszahlen nur Wegmarken. Egal wo man sie setzt – die ganze Infamie, der ganze Skandal dieser Tatsache besteht doch darin, dass es überhaupt nach wie vor eine „Apartheid“ gibt, die Menschen in solche mit und solche ohne (bestimmte) Rechte unterteilt, und zwar nach quasi willkürlichen Gesichtspunkten. Geschlecht, Hautfarbe, Religion, politische Gesinnung… haben sich da schon bestens bewährt – weitere Spielarten gibt es noch reichlich! Und dieser Terror der „Apartheid“ ist eines mit Sicherheit nicht: weiblich!

Rebellion der Weiblichkeit

Vielleicht ist es ja die Weiblichkeit, die den Planeten noch retten kann. Dann wäre es jene Weiblichkeit, egal ob von einer Frau oder von einem Mann empfunden, die sich frei von Stereotypen oder Instrumentalisierungen entwickeln darf. Nicht eine von Männern gewollte oder geduldete Weiblichkeit. Keine für bereits bestehende Gesellschaftsentwürfe designte Weiblichkeit. Keine, die sich aus der Rippe des Mannes entwickelt. Sondern eine tatsächlich emanzipierte Weiblichkeit, unverfälscht authentisch. Klingt das brauchbar, aus der Feder eines Mannes? Oder schreibt da ohnehin mein Yin? Wie auch immer: Erst recht darf sich die Qualität der gemeinten Weiblichkeit nicht durch patriarchale Strukturen monetärer Bewertung verwässern lassen. Warum soll die oftmals abschätzig beäugte Arbeit am Herd und im Haushalt weniger wert sein, als das Abhalten von Vorstandssitzungen in den oberen Etagen vollverglaster Immobilienblasen. Warum soll das eine weiblicher sein als das andere? 

Im Bücherfundus meiner Töchter finden sich reichlich Werke, in denen weibliche Helden und Heldinnen, oder weibliche Botschaften im Mittelpunkt stehen. Man findet derlei eigentlich bei allen großen Kinderbuchklassikern. Zwei der Bücher tanzen dabei insofern aus der Reihe, als sie Biografien beinhalten. Ihre Titel: „Good Night Stories for Rebel Girls 1 und 2“. Aber Stories sind es eigentlich gar nicht. In beiden Büchern werden auf Doppelseiten in aller Kürze und Prägnanz das Leben und Wirken von jeweils 100 Frauen aus aller Welt, aus unterschiedlichen Epochen und mit unterschiedlichsten Berufungen, vorgestellt. Genaugenommen ist es nur eine winzige Menge scheinbar willkürlich gewählter Rebellinnen, aber dennoch beeindruckt die Informationsdichte dieser Sammlung.

Ich habe drei Töchter. Weiblichkeit spielt in meinem Leben also eine große Rolle. Das Rebellische haben meine Töchter im Blut, das zeichnet sich für mich eigentlich jeden Tag deutlich ab. Es könnte manchmal auch ruhig etwas weniger sein, wenn es nach mir ginge. Aber nach mir soll es nicht gehen und auch nach sonst niemandem. Ich denke, es liegt in der Natur der Rebellion, dass sie sich nicht bändigen lässt. Gut so. Und doch darf eine rebellische Haltung nicht zur Bürde werden. Rebellion ist gut, wenn sie notwendig ist. Sie ist schlecht, wenn sie sich selbst erzwingt. 

Auf dass unsere Töchter das Geschenk ihrer Weiblichkeit zu würdigen wissen, daran erinnert sie gelegentlich meine Frau. Mir obliegt es dagegen, ihrem Yang ein seelisches Gegenüber zu bieten: indem ich mich bereithalte, sie bei ihren Wünschen, Träumen und Plänen zu begleiten, bei Bedarf zu beraten und vor allem – immer für sie da zu sein. Mir scheint, auf diese Weise schenke ich unter anderem meiner eigenen Weiblichkeit den Raum, den sie für mich braucht.