Zukunftsmusik

Wir wissen nicht, nach welchen Kriterien selbstlernende Künstliche Intelligenz unser Leben „optimieren“ wird, doch sie wird. Ganz sicher keinen Stellenwert wird dabei die Leidenschaft haben, denn KI empfindet nicht. Sie mag unser Leben mitunter bereichern, das Menschsein aber ist in seiner Leidenschaftlichkeit einzigartig. Das sollten wir bedenken, wenn wir diesen „Besen“ beschwören.


Von Jost Alexander Binder

Es ist irritierend, wenn künstliche Intelligenzen (KI) etwas tun, was wir irgendwie…, instinktiv vielleicht, für einen unverhandelbaren Claim der menschlichen Spezies gehalten haben. Zum Beispiel Musik. Ich war noch nie auf dem Open-Air-Konzert einer KI, aber so etwas soll es geben. Sogar interaktiv: die KI errechnet dabei eine Partitur aus dem Pulsschlag und der Mimik des Publikums, ein „echtes“ Orchester intoniert. Das klingt, ja es klingt, wirklich verrückt. Aber ist das Experimentelle nicht auch ein Wesenskern von Kunst? Und warum soll eine KI unter Zuhilfenahme einer beträchtlichen Rechenleistung und mit Zugriff auf ein Universum an berstenden Datenbanken nicht in der Lage sein, ein Musikstück zu komponieren? KI kann ja bekanntlich auch tadellose Texte erstellen und sogar in Sekundenschnelle in zahlreiche Sprachen übersetzen. 

Solange Technik dem Komfort dient, ist ihre Nutzung wohl eine Haltungsfrage. Kann man mögen oder auch nicht. Kann man ablehnen. Als Musiker wäre es mir peinlich, ein von künstlicher Intelligenz komponiertes Musikstück aufzuführen. Als Autor wäre es mir peinlich, Chat-GPT für die Texterstellung zu bemühen. Aber wenn ich längere Textabschnitte ins Englische übersetzen muss, bin ich sehr dankbar über DeepL. Wo liegt der Unterschied?

Jeder Komponist, Künstler oder Autor kreiert sein Werk aus einem inneren Antrieb, einer Begeisterung oder aus einem dringenden Mitteilungsbedürfnis heraus – eben aus Leidenschaft. Leidenschaft kann eine KI nicht empfinden. Nie. Ein Pflegeroboter, dem man beigebracht hat zu lächeln, sanfte Bewegungen auszuführen, oder freundliche Bemerkungen zu machen, mag der zu pflegenden Person akzeptabel erscheinen; zumal in Ermangelung verfügbaren Lebendpersonals oder einer daraus resultierenden, fehlenden liebevollen Betreuung. Aber der Pflegeroboter selbst – er fühlt nichts. Zuneigung – in welchem Kontext auch immer – hat aber letztlich immer mit Gegenseitigkeit zu tun. Geben und Nehmen sind wie Yin und Yang. Oneway verpufft am Ende stimmlos. Der Pflegeroboter fühlt nichts. Und daran wird sich auch nie etwas ändern. Sorry, Silicon Valley (dort gibt es einige menschlich-intelligente Wirrköpfe, die ernsthaft glauben das realisieren zu können); doch Größenwahn kommt vor dem Fall, denkt an eure Bank. 

Trotzdem kann KI, als Technologie mit erst rudimentär erschlossenem Innovationspotential, auch die menschliche Kreativität fördern. Sicherlich dann, wenn es darum geht Aufträge auszuführen, die nicht unmittelbar der eigenen Selbstverwirklichung dienen; vielleicht auch bei der Erweiterung eigener Perspektiven und Überwindung bestehender Horizonte. 

Womöglich sogar bei der Ergründung philosophischer Fragestellungen. Zum Beispiel dieser: „Was macht uns Menschen zu Menschen?“ Darüber hat eine KI namens GPT-3 ein Buch geschrieben („Was euch zu Menschen macht“, 2022). Die KI beantwortet darin eine Vielzahl von Fragen, die ihr von den zwei (menschlichen) „Co-Autoren“ des Buches gestellt wurden. Diese taten das mehr oder weniger „in Vertretung der menschlichen Spezies“ …nehme ich an. GPT-3 recherchierte in 570 GB Daten (also irgendwie übersichtlich ist man versucht zu trivialisieren) und fasst sich bei den Antworten lesebequem kurz. Die KI schwafelt nicht. Meist kommt sie in wenigen Sätzen oder Absätzen auf den Punkt. Die kürzeste Antwort, die GPT-3 gibt, ist jene auf die Frage „Was ist das wahre Geschenk des Lebens?“. Die KI antwortet darauf: „Die Liebe“ (S. 85). 

Allzu originell fallen die Antworten auch sonst nicht aus. Zu einem ähnlichen Ergebnis hätten wahrscheinlich auch Gespräche mit einem spirituellen Lehrer, einem Guru, oder Mönch geführt. Einige kryptischer wirkende Antworten stehen wiederum einem Orakel in nichts nach. Manche klingen dagegen ernüchternd niederschwellig, mehr so nach Ratgeber-Literatur. Die KI hat sich fleißig eingelesen, scheinbar unerschrocken jedwedes Genre als Quelle zugelassen und scheut sich auch nicht, uns Menschen etwas über die Seele zu erzählen. Trotzdem danke, GPT-3.

Aber was macht uns denn nun zu Menschen? Oder besser: was macht uns denn zu Nicht-Robotern?

Vom Chi zur KI und zurück. 

Chi steht hier nicht für Children. KI nicht für KInder. Aber wenn uns genau deren Zukunft am Herzen liegt, müssen wir, glaube ich, einen ausgewogenen Zugang zu beiden Dimensionen finden: der geistig-körperlichen Energie des Qi (Chi) und jenen nützlichen Komponenten Künstlicher Intelligenzen. Nur so können wir als Eltern, Lehrer, Freunde die uns anvertrauten Seelen dabei unterstützen, auch selbst dieses Gleichgewicht in einer zunehmend polarisierenden Welt zu halten.

Jack Ma, der Gründer von Alibaba (= asiatische Version von Amazon) hat 2018 in einer Rede vor dem World Economic Forum folgende Aussagen getroffen: „Unsere Kinder könnten den Kampf gegen die Maschinen verlieren. Roboter werden bis 2030 bis zu 800 Millionen Jobs übernehmen. Bildung bleibt daher die große Herausforderung: ändern wir nicht, wie wir unterrichten, dann haben wir in 30 Jahren massive Probleme. Die Art wie wir lehren, die Dinge die wir unseren Kindern beibringen, sie stammen aus den letzten 200 Jahren. Sie basieren auf Wissen. Doch wir können unseren Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren. Maschinen sind schlauer! Lehrer müssen aufhören, lediglich Wissen zu vermitteln. Kinder sollten etwas Einzigartiges lernen, dann können Maschinen sie nicht einholen. Diese Dinge sollten wir Kindern beibringen: Werte, Überzeugung, unabhängiges Denken, Teamwork, Mitgefühl. Das alles kann nicht durch reines Wissen erlernt werden. Wir sollten unsere Kinder in Sport unterrichten, in Musik, in Malerei bzw. Kunst! So stellen wir sicher, dass Menschen anders sind. Alles was wir lehren, muss sich von Maschinen unterscheiden. Wenn Maschinen etwas besser können, müssen wir noch mal darüber nachdenken.“

Nun würde ich mich nicht als jemanden bezeichnen, der große Sympathien für Multimilliardäre hegt, die mit Massenkonsumhalden wie Alibaba reich geworden sind. Und erst recht halte ich das World Economic Forum für die denkbar ungeeignetste Plattform, wenn es um Dinge geht, die der Zukunft der Menschheit zum Vorteil gereichen sollen. Allerdings habe ich mir angewöhnt, den Inhalt von Botschaften auch unabhängig von ihrer Quelle zu bewerten. Außerdem liegt Jack Ma mit der chinesischen „Diktapitalitur“ im Clinch. Insofern scheint mir diese seine Prophezeihung, zu der sehr wirkmächtige Persönlichkeiten nun einmal neigen, durchaus plausibel, zumindest als Denkanstoß. 

Ob man persönlich die sich ankündigende Auslagerung von immer mehr Arbeit und sogar bedeutender Entscheidungen an KI befürwortet oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Erfahrungsgemäß setzt man bei Technologien solange auf deren Ausbau, solange sie Geld einbringen; selbst wenn ihre Erfinder und Entwickler die Eindämmung empfehlen, ja davor warnen. Es ist daher unabsehbar, wohin das alles noch führen wird. Wozu aber als Mensch, mit ohnehin beschränkten Energieressourcen, Energie auf die Konkurrenz mit Systemen verschwenden, deren Überlegenheit in bestimmten Bereichen vorläufig vermutlich nicht aufzuhalten ist? 

Und wenn nur das der Beitrag von KI ist: wieder zu entdecken, was es bedeutet Mensch zu sein. Die menschliche Unique Selling Proposition (nicht als Verkaufsargument, sondern als evolutionäres Qualitätsmerkmal verstanden) zu revitalisieren. Und dazu gehört es, nicht nur im Sinne Ma’s, zu erkennen, was wir als Menschen anders bzw. besser können als Maschinen. Noch wichtiger ist es, den Mehrwert dessen zu realisieren, wie wir die Dinge anders machen: eben aus Leidenschaft. Mit Freude, unter Schmerzen, aus Überzeugung. Lachend. Weinend. Sehnsüchtig. Begeistert. Und indem wir diese leidenschaftliche Auseinandersetzung – womit auch immer – fördern.

Lernen aus Leidenschaft. Lehren mit Leidenschaft.

Das einzige Mal, als ich in Mathematik ein Sehr Gut auf eine Schularbeit bekam, war in meinem letzten Jahr in der Unterstufe. Und das lag ausschließlich daran, dass mir erstmals klar war, wozu ein Verständnis von Formeln gut sein könnte. Wir beschäftigten uns mit Geometrie und berechneten den Hubraum eines Toyota Corolla. Ich war weder jemals besonders technikaffin, auch Autos haben mich nie so gefesselt, wie man es Jungs bisweilen nachsagt. Damit hatte es also nichts zu tun. Allein die Tatsache, dass mich das Verstehen von bestimmten Formeln dazu ermächtigte, ein ansonsten unzugängliches Wissen zu erwerben und verwenden zu können, hat mich – wie man so schön sagt – intrinsisch motiviert. Hier konnte der Grashalm wachsen, weil er behutsam gegossen wurde und nicht gewaltsam entwurzelt oder gleich wieder zurechtgestutzt. Dieses historische Sehr Gut blieb mir in Erinnerung; sicher auch, weil Seltenes nun einmal an Wert gewinnt. Vor allem aber, weil ich es mit minimalem Lernaufwand errechnet hatte. Eine Leidenschaft zur Mathematik hat sich daraus leider trotzdem nie entwickelt. So eine emotionale Singularität, zumal basierend auf einer Notenwertung, ist wahrscheinlich auch bestenfalls ein Strohfeuer der Leidenschaft. Aber das hat genügt. Leidenschaft muss nicht zwingend die in Bausch und Bogen zur Schau gestellte, bei jeder Gelegenheit zelebrierte Hingabe zu einem Lebewesen, einer Beschäftigung oder einer Sache sein. Leidenschaft kann auch im Genuss der Stille, in einer in winzigen, aber liebevoll verzierten Dosen verabreichten Freude bestehen. Und so zehre ich noch heute von diesem „Erlebnis“. Denn es hat mir verdeutlicht, welche enormen Ressourcen freigesetzt werden, wenn man an einer Sache echtes Interesse zeigt, eben Freude empfindet, oder Neugier entwickelt. 

Auf Basis dieser Erkenntnis baue ich heute meine eigene Lehre auf. Wenn ich unterrichte, ist der eigentliche Sachinhalt beinahe sekundär. Oberstes Gebot ist mir, dass Interesse an einer zu vermittelnden Materie geweckt werden soll. Primäres Werkzeug ist dabei meine eigene Begeisterung und die eigene Neugier. Nur wenn ich selbst eine gewisse Leidenschaft für die Materie zeige, kann der Funke überspringen. Zwar entfacht bei weitem nicht jeder Funke gleich ein glühendes Interesse. Es hat nun einmal nicht jeder dieselben Leidenschaften; und nicht dieselben Präferenzen und Ressourcen. Ich, für mich, kann die Resonanz meines Zugangs zu Lehre  abseits reiner „Wissensvermittlung“ aber sehr klar beobachten und feststellen, was sich dabei bewährt hat und was nicht. 

Am verlässlichsten ist dabei der Blick in die Gesichter. Und nicht selten findet man dort, bei den oft kaum über 20-jährigen schon eine bedrückende Erschöpftheit. Eine Erschöpftheit, die leider nicht nur auf ein (hoffentlich) reges Studentenleben hindeutet, sondern eher auf fehlende Perspektiven. Wenn dann allerdings ein Strahlen über die Gesichter huscht oder ein Glanz über die Augen, dann ist etwas gelungen. 

Keine Angst mehr!

Die zweitkürzeste Antwort im oben genannten Buch „Was euch zu Menschen macht“, ist jene auf die Frage: „Wovor hast Du am meisten Angst?“ Darauf antwortet die KI GPT-3 mit: „Vor mir selbst.“ Das erinnert mich an diese oft seltsam widerspenstige innere Unsicherheit, die uns vor unserem eigenen Wirken zurückweichen lässt. Wie viele Therapiestunden, Coachings, Workshops braucht es, um dann, später im Leben, „dieses, unser Licht, dass man uns irgendwie beigebracht hat, unter dem Scheffel zu verstecken“, wieder hervorzuholen und zum Leuchten zu bringen?

Unter anderem aus diesem Grund formuliert Gerald Hüther seine Kritik am Bildungssystem weniger als Warnung, wie Ma, eher wie eine Anklage. Hüther fürchtet nämlich, „würden die Menschen in Schulen wirklich in den Dingen geschult, die sie später einmal brauchen, dann könnte das auf Konsum und politischer Unmündigkeit basierende System einpacken.“ 

Sicher hat er recht und ja, mir scheint, das System packt bereits. Derzeit aber aus anderen als den von Hüther erwünschten Gründen. Das kann einiges an unvorhergesehenen Folgewirkungen bedeuten. Was es daher dringender denn je braucht, ist nicht nur Bildung, sondern vor allem Stimmbildung! Wir brauchen ein in jeder Hinsicht kraftvoll ausgebildetes Organ, um unserer Bildung auch Gehör zu verschaffen. Mit Akustik hat das nur am Rande zu tun. Eher damit, dass unsere Kinder Gelegenheit dazu bekommen, sich all jene Kompetenzen anzueignen, die wir selbst nicht, kaum, selten oder erst durch Fort- und Weiterbildungen erworben haben. Auf dass sie sich jederzeit ermächtigt und bekräftigt fühlen, für das was ihnen wichtig ist, aufzustehen und ihren Bedürfnissen ohne Scheu ihre volle Stimme zu geben: es in die Welt hinaus-schreien, hinaus-singen oder hinaus-trommeln. Oder es im übertragenen Sinn laut und erläuternd hinaus-schreiben, -klettern, -tanzen, -schütteln, -laufen, -kochen, meinetwegen auch hinausbeten oder -arbeiten. Oder hinaus-schweigen. Dann aber stimmvoll. Allzu oft fehlen uns die Worte, versagt uns die Stimme, bleibt gar die Spucke weg und droht der Mundtot. Dann kann Schweigen Resignation bedeuten. Doch dieses Schweigen rettet uns nicht. 

Der Leidenschaft die Gelegenheit zu geben, sich zum Ausdruck zu bringen – das war historisch leider nie der Auftrag von Schule. Manche Schulen und oft auch „nur“ mutige Lehrer haben es dennoch gewagt, geschafft, viele auch wieder verlernt oder es abgewöhnt bekommen. Einige haben das System Schule verlassen und manche, besonders ambitionierte, neue Systeme begründet und damit enorme Hürden auf sich genommen. Die Lernwerkstatt ist eines dieser Projekte, die diesen steinigen Weg als Pioniere beschritten und bis heute erfolgreich beibehalten haben. Schule, die Leidenschaft nicht in vorgefertigte Bahnen leitet, sondern als Potential wahrnimmt und fördert. Dafür bin ich den Gründern, uns Betreibern und all den vielen engagierten Menschen dankbar, die den Lernort Lernwerkstatt möglich machen.