Das Jahrhundert des Kindes

Als Ellen Keys Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ im Jahre 1900 in Schweden erschien, fielen die Rezensionen äußerst kritisch oder negativ aus – vorwiegend vom männlich geprägten Establishment wie beispielsweise Carl David af Wirsén, langjähriger Sekretär der Schwedischen Akademie, oder dem religiös orientierten Professor der Philosophie, Vitalis Norström.

Ähnliches hätte auch in Deutschland geschehen können, schrieb doch der renommierte Professor für Philosophie und Pädagogik an der Berliner Universität, Verfasser von historischen und systematischen Standardwerken der Pädagogik, Friedrich Paulsen, beim Erscheinen des Buches im deutschsprachigen Raum 1902:

„Wer liest das Buch vom `Jahrhundert des Kindes´? … Ich weiß es nicht; dass es Männer lesen, glaube ich nicht; bleiben die höheren Töchter. In der Tat, ich denke mir, dass es so durch die Hände aller Backfische (Anm.: veraltetes Wort für weibliche Teenager) Berlins gegangen sein wird. Wer sollte auch sonst imstande sein, dieses Gemisch von wohlmeinender Trivialität, schwungvoller Beredsamkeit, maßlosen Anklagen, kritikloser Kritik, unverdauten Lesefrüchten aus allen Modernen, dissoluter Dünkelei und Meinerei, mit Zwischenreden des gesunden Menschenverstandes zu lesen, in dem jeder Satz wider den anderen ist, die Forderungen des extremsten Individualismus neben sozialistischen Ideen stehen. … Wer in der Welt, frage ich, sollte ein solches Buch zu lesen aushalten, ausgenommen die vereinigten Backfische von Berlin?“ 

Weshalb, kann man sich fragen, löste Ellen Keys Buch einen derartigen Sturm der Entrüstung in der akademischen Welt aus? Dieser Welt war nicht nur verdächtig, dass „die Autorin mit dem `Jahrhundert des Kindes´ einen Jahrhunderttitel kreiert hatte“, sondern vor allem, „weil sie als Frau nie eine Universität besuchte und sich als Autodidaktin anmaßte, über Dinge zu schreiben, die eigentlich Wissenschaftlern vorbehalten waren“, schrieb Meike Sophia Baader in ihrem Potrait über Ellen Key (siehe Buchtipp anbei). Was zu Zeiten Ellen Keys bedeutete: Wissenschaftler männlichen Geschlechts.

Zum einen lässt sich sagen, dass Ellen Key ja versuchte, genau gegen solche patriarchalen Strukturen anzuschreiben, zum anderen ist erstaunlich, wie lange sich ein Urteil (eben jenes, dass sie unseriös schreiben würde), einmal etabliert, hartnäckig halten kann. Wie sonst wäre es verständlich, dass erst 1976 die erste pädagogische Dissertation über sie erschien und sich mit Ausnahme von „Das Jahrhundert des Kindes“ für ihre pazifistischen Texte, Essays, kulturanalytischen Untersuchungen oder Bücher über die Rolle und Emanzipation der Frauen erst seit wenigen Jahren wieder Übersetzungen ins Deutsche finden?

Wie dem auch sei – als das Buch 1902 im deutschsprachigen Raum erschien, traf es auf ein begeistertes Publikum, was sich an den Auflagezahlen manifestierte, aber auch im Ansturm auf ihre Vorträge, was sich skizzenhaft anhand einer Reise im Jahre 1905 illustrieren lässt: „Diese Reise dauerte von Februar bis Juni. Zuerst führte sie ihr Weg durch Deutschland, die Schweiz, Österreich-Ungarn, wo sie in allen größeren Städten Vorträge hielt. … Sie sprach in Hallen vor tausend Zuhörern und manchmal waren es bis zu 400 Leute, die draußen warteten und keinen Einlass fanden. `Diese Tausende, die ich hatte, hätten auch fünf oder zehnmal mehr sein können´, schreibt sie am Ende ihrer Tour. Zweimal in Berlin und Wien und einmal in Prag hatte sie auch gesprochen, ohne Eintrittsgeld zu verlangen.“ 

Mit Rainer Maria Rilke verband Ellen Key eine jahrzehntelange Freundschaft. Beim Erscheinen ihres Buches „Das Jahrhundert des Kindes“ formulierte er treffend:

„Dieses Buch, in seiner stillen, eindringlichen Art, ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können. Man wird im Verlaufe dieses begonnenen Jahrhunderts immer wieder auf dieses Buch zurückkommen, man wird es zitieren und widerlegen, sich darauf stützen und sich dagegen wehren, aber man wird auf alle Fälle damit rechnen müssen.“ 

Das gilt auch heute noch.

Mehr über diese über viele Jahrzehnte hinweg fast vergessene, aber heute wieder aktuelle Pädagogin im folgenden Portrait. 

Ellen Key (1849 – 1926)

Als Ellen Keys Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ 1902 in Deutschland erschien, wurde es begeistert aufgenommen. In nur wenigen Jahren mussten 20 weitere Auflagen gedruckt werden und begründeten so den wachsenden Ruhm der schwedischen Autorin. Es sei ihr bekanntestes Buch, urteilten damals Kritiker, aber nicht ihr bestes. Denn Ellen Key schrieb nicht nur über Pädagogik, sie publizierte auch über Frauenrechte, Pazifismus und Literatur. Ihr großer Freundeskreis war über ganz Europa verteilt, sie stand im Austausch mit Reformpädagogen wie Gustav Wyneken oder Paul Geheeb, mit Bertha von Suttner oder Literaten wie Stefan Zweig und Rilke. In Schweden selbst stark angefeindet, brachen durch die Wirren des Ersten Weltkrieges viele dieser Kontakte ab. Ellen Key starb 1926 sehr zurückgezogen in ihrem Haus am Vättersee. 

„Geboren bin ich den 11. Dezember 1849 auf Sundsholm als erstes Kind junger und glücklicher Eltern“, schrieb Ellen Key an einer Stelle und verweist in Bezug auf ihre Kindheit immer wieder darauf, dass es schöne Jahre waren. Die familiäre Atmosphäre soll eine Mischung aus solider Geborgenheit und aufgeklärter Intellektualität gewesen sein. Bücher waren wichtig im Hause der Keys, die Erwachsenen lasen sich gegenseitig vor. Eine Rolle, die Ellen Key später für ihre Geschwister übernahm und ihnen beispielsweise aus dem gerade erschienenen Buch „Der Letzte der Mohikaner“ vorlas. Das war etwa zur selben Zeit, als sie ihre fünf Geschwister dazu anstiftete, sich aus dem Elternhaus in die Wälder in Richtung Bauernhof der Großeltern davonzumachen. Zwei Nächte waren sie verschwunden und noch im hohen Alter blickte sie stolz auf dieses Erlebnis zurück, das sie durchaus einer guten Kindheit angemessen empfand.

Eine Schule haben die Kinder der Keys nie besucht. Für die wichtigsten Dinge gab es HauslehrerInnen für die Burschen wie für die Mädchen, vor allem für das Erlernen der drei meistgesprochenen europäischen Sprachen, wohl ein Grund dafür, dass Ellen Key sich später relativ leicht und rasch in der europäischen Literatur und Kultur zurechtfand. Lesen wurde bei ihr bald zur Sucht. Als Zehnjährige hatte sie das Wichtigste an Weltliteratur aus der Bibliothek ihrer Eltern gelesen. Als Ellen Key zwölf Jahre alt war, gaben die Eltern das Vorhaben auf, in der Bibliothek die Bücher nach „Bücher für Erwachsene“ und „Bücher für Kinder“ zu trennen und sie erhielt einen eigenen Schlüssel für die Bibliothek. Zeitlebens war sie froh, nie dem egalisierenden staatlichen Schulwesen ausgesetzt gewesen zu sein, in welchem jeder Kenntnisdrang und jede Selbsttätigkeit erstickt wird:

„Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes. Der Kenntnisdrang, die Selbsttätigkeit und die Beobachtungsgabe, die die Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluss der Schulzeit in der Regel verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen umgesetzt zu haben. Das ist das Resultat, wenn die Kinder ungefähr vom sechsten bis zum achtzehnten Jahre ihr Leben auf Schulbänken damit zugebracht haben, Stunde für Stunde, Monat für Monat, Semester für Semester Kenntnisse zuerst in Teelöffel-, dann in Dessertlöffel- und schließlich in Esslöffelportionen einzunehmen, Mixturen, die der Lehrer oft aus Darstellungen aus vierter oder fünfter Hand zusammengebraut hat.

Und nach der Schule kommt oft eine weitere Studienzeit, in der der einzige Unterschied in der `Methode´ darin besteht, dass die Mixtur jetzt mit dem Schöpflöffel zugemessen wird.

Wenn die Jugend diesem Regime entrinnt, ist die geistige Esslust und Verdauungsfähigkeit bei einigen so zerstört worden, dass ihnen für immer die Fähigkeit fehlt, wirkliche Nahrung aufzunehmen; andere wieder retten sich von all diesen Unwirklichkeiten auf das Gebiet der Wirklichkeit, indem sie die Bücher in die Ecke werfen und sich irgendeiner Aufgabe des praktischen Lebens widmen.“ 

Mit solche Gedanken war Ellen Key zu ihrer Zeit aber nicht alleine, selbst Sigmund Freud weist auf die denkwürdige Tatsache hin, dass die „strahlende Intelligenz der Kinder ziemlich regelmäßig zum Erliegen komme, sobald die Betreffenden in etwas engeren Kontakt mit den öffentlichen Schulen gekommen seien.“ In ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ widmet Ellen Key ein Kapitel der Analyse des damaligen Schulsystems und betitelt es mit „Die Seelenmorde in den Schulen“, dem dann das Kapitel „Die Schule der Zukunft“ folgt – einer Darstellung von Schule, wie sie sich eine solche für Kinder im damals gerade angebrochenen neuen Jahrhundert erträumen würde. Davon aber später.

Ellen Key war jedenfalls realistisch genug, um zu wissen, dass es noch Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, bis solche Schulen entstehen werden, wenn sie schreibt: „Wer vor die Aufgabe gestellt würde, mit einem Federmesser einen Urwald zu fällen, müsste wahrscheinlich dieselbe Ohnmacht der Verzweiflung empfinden, die den Reformeiferer vor dem bestehenden Schulsystem ergreift.“ Ihre eigene Erziehung sah Ellen Key als einen möglichen Weg, bis es solche neue Schulen geben würde und verweist in Folge auf ähnliche Lebenswege:

„Fast alle großen Männer und Frauen, die selbstdenkend und selbstschaffend waren, haben ihre Bildung teils gar nicht in der Schule, teils mehr oder weniger spät, teils mit längeren oder kürzeren Unterbrechungen, teils in verschiedenen Schulen erhalten. Meistens war es die lebendige Anschauung, das im geheimen gelesene Buch, die eigene Wahl des Stoffes, die dem Ausnahmemenschen seine Bildung gegeben hat. Goethes Erziehung ist in diesem Falle ideal, wenn man von einiger Pedanterie seines Vaters absieht. Am Arbeitstisch der Mutter lernt er die Bibel kennen; Französisch lernt er von einer Theatertruppe; Englisch von einem Sprachmeister zusammen mit seinem Vater; Italienisch, indem er die Schwester in dem Gegenstande unterrichten hört; Mathematik von einem Freund des Hauses … Er führt seine Aufsätze in Form eines Briefwechsels in verschiedenen Sprachen zwischen mehreren, in verschiedene Länder zerstreuten Geschwistern aus, er studiert eifrig Geographie in Reisebeschreibungen … Er wandert mit dem Vater herum, lernt verschiedene Handwerke beobachten, kleine Aufträge ausführen.“ >>

Eine neue Welt öffnet sich

1868 wurde ihr Vater als Abgeordneter in den Reichstag gewählt und es kam zur Übersiedlung eines Teils der Familie nach Stockholm. Kaum zwanzigjährig, begann Ellen Key als Sekretärin ihres Vaters zu arbeiten, der seiner Tochter Reden, Artikel und Aufsätze diktierte. Dabei erlernte sie nicht nur das Handwerk der Schriftstellerin, sondern wurde gleichzeitig in die politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen ihrer Zeit eingeführt.

Der norwegische Schriftsteller Bjornson, der die Wohnung mit den Keys teilte, ermutigte sie zum Schreiben. Ihre ersten Zeitungsartikel zeichnete sie noch mit dem Namen ihres Vaters, 1874 dann zum ersten Mal mit ihrem eigenen Namen. 1880 kam es zum Beinahe-Bankrott der Familie und Ellen Key musste sich eine eigene bezahlte Tätigkeit suchen. Sie begann an der Schule von Anna Whitlock (einer privaten, fortschrittlichen und koedukativen Elementarschule) zu unterrichten und hielt wöchentlich Vorträge in Kulturgeschichte am „Stockholmer Arbeiter Institut“, eine Tätigkeit, die sie für die kommenden 20 Jahre beibehalten sollte. Das Institut wurde für sie so zu einer Plattform, auf der sie zu einer öffentlichen und politischen Person in Schweden wurde, denn pro Jahr hörten dort an die 10.000 Menschen ihre Vorträge.

Ruhm und Kritik

In den folgenden Jahren begann eine Zeit reicher publizistischer Tätigkeit. Aber was immer Ellen Key auch veröffentlichte, sie eckte an, brachte damit gesellschaftliche Dogmen ins Wanken: In nationalen Angelegenheiten nannte man sie explizit eine Verräterin, da sie mit ihren politischen wie pazifistischen Schriften Finnland und Norwegen in ihrem Unabhängigkeitsstreben unterstützte und sich kritisch mit dem nationalen Traum von einem „Großschweden“ auseinandersetzte. Mit ihren Büchern zu Frauenrechten wie „Missbrauchte Frauenkraft“ oder „Liebe und Ethik“ hob sie gängige Muster zu Arbeit oder Liebe, Partnerschaft und Ehe aus den Angeln, wenn sie beispielsweise für Frauen das freie Recht auf Mutterschaft (oder deren Ablehnung) einforderte oder das Recht auf Scheidungen von Partnerschaften und Ehen, die sich nicht mehr als tragfähig erwiesen. Die Forderung nach gelebter Sinnlichkeit auch vor der Ehe brachte ihr den Titel „Verführerin der Jugend“ ein.

Mit ihren pädagogischen Schriften stieß sie als Frau ohne akademischen Abschluss auf ein von männlichen Akademikern beherrschtes feindliches Terrain vor und Kritiken wie jene von Wirsén  oder Friedrich Paulsen zu ihrem „Jahrhundert des Kindes“ lesen sich wohl auch deshalb wie eine Art territorialer Exkommunikation.

Aber auch die Zahl der Befürworter ihrer Gedanken wuchs. Martin Buber brachte in diesen Jahren beim renommierten Verlag Rütten&Loening eine Sammlung sozialpsychologischer Monografien heraus: Neben vielen anderen schrieb dort Fritz Mauthner über „Die Sprache“, Gustav Landauer über „Die Revolution“ und Lou Andreas-Salomé (später eine enge Freundin Ellen Keys) über „Die Erotik“. Mit dem Thema „Die Frauenbewegung“ beauftragte er Ellen Key. Als ihr Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ 1902 in Deutschland erschien, schrieb Rainer Maria Rilke als einer der ersten Rezensenten:

„Das Buch von Ellen Key ist die erste Station auf einem neuen Wege. Es wird den Kindern noch nicht helfen können; aber es wird dazu beitragen, unter denen, die jetzt heranwachsen, neue Erzieher und neue Eltern zu bilden. Und das tut vor allem not.“ 

„Das Jahrhundert des Kindes“ 

Sehr vereinfacht könnte man sagen, Ellen Keys Hauptanliegen mit ihrem Buch war offenkundig die Kritik an der damaligen Kinderarbeit und den Arbeitsbedingungen für Frauen. Den Platz für Kinder sah sie in Bildung und Erziehung und nicht am Arbeitsmarkt und wünschte sich gesetzliche Maßnahmen zum Mutterschutz. Es ist eine Analyse der damaligen Zeit, und vieles wird nur dadurch verständlich. Ihre sozial-darwinistischen Aussagen wirken heute eher befremdlich, jene zur Eugenik verstörend und ihre Schulkritik bezieht sich auf ein rigides preußisches Schulsystem, das Schweden damals von Preußen übernommen hatte. Ungebrochen über ein Jahrhundert hinweg scheint aber jene Kraft zu sein, wenn Ellen Key von ihrer „Schule der Zukunft“ spricht:

„Schon beim allerersten Unterricht gilt es, die Selbstbeobachtung und die Selbstarbeit des Kindes als  Erziehungsmittel für das Kind und als Richtschnur für seine eigene Beobachtung desselben zu gebrauchen …

In meiner geträumten Schule wird es keine Zeugnisse oder Belohnungen geben; es werden keine anderen `Reifeprüfungen´ angestellt werden als solche, die sich durch Gespräche vollziehen. Bei diesen werden nicht die Detailkenntnisse, sondern die Ganzheit der Bildung den Ausschlag geben. … In dem zukünftigen Schulgebäude gibt es gar keine Klassenzimmer. Aber es gibt da verschiedene Säle mit reichem Material für verschiedene Gegenstände, und neben ihnen Arbeitsräume, wo jeder seinen gegebenen Platz zum Selbststudium hat . … 

In meiner geträumten Schule herrscht – nachdem der oben erwähnte Grund gelegt ist – Wahlfreiheit in allen Gegenständen. Die Schule bietet dieselben, aber sie zwingt sie niemandem auf. … Gut sehen können – in den Welten der Natur, des Menschen und der Kunst – und gut lesen zu können, das sind die zwei großen Ziele, denen die Erziehung in der Schule zusteuern soll. Wenn das Kind das vermag, kann es fast alles andere selbst lernen. … 

Die Lehrbücher werden voll Kraft und Lust sein … Die Bibliothek der Schule wird das größte, schönste und wichtigste Lehrzimmer sein, und das Bücherverleihen der Schule ein wesentlicher Teil ihrer ganzen Lehrtätigkeit. …

Ich träume mir jede Zukunftsschule von einem großen Garten umgeben, … mit Platz für Tanz und freie Spiele, das heißt solche, wo die Kinder, nachdem sie einmal das Spiel gelernt haben, sich selbst überlassen sind. Beständig vom Lehrer angeleitete Spiele machen das Spiel zur Parodie! … 

Für die Schule der Zukunft müssen ganz neue Seminarien die Lehrer vorbereiten. Die patentierte Pädagogik wird der individuellen weichen, und nur der, welcher durch Natur und Selbstkultur mit Kindern spielen, mit Kindern leben, von Kindern lernen, sich nach Kindern sehnen kann, wird in einer Schule angestellt werden. … Und angestellt werden diese Lehrer nur nach einem Probejahr, nach dem nicht nur die Prüfungsbeisitzer – die das ganze Jahr hindurch den Unterricht verfolgt haben – sondern auch die Kinder ihr Urteil aussprechen!“ 

Ellen Key fügt ihrem Traum von einer zukünftigen Schule noch viele weitere Bilder und Wünsche hinzu – und er endet mit einer sehr konkreten Aufforderung, die wohl auch heute noch Gültigkeit hat:

„Meine geträumte Schule kommt solange nicht zustande, wie die Staaten ihre größten Opfer für den Militarismus bringen. Erst wenn dieser überwunden ist, wird man es in der Entwicklung so weit gebracht haben, dass man einsieht, dass der teuerste Schulplatz – der wohlfeilste ist.“ 

Impulse für die Reformpädagogik

Ellen Key hat selbst nie ihre Träume in einem eigenen Schul- oder Erziehungsprojekt verwirklicht, war aber sehr wohl Initiatorin oder Richtschnur für viele andere. Sie besuchte das von Gustav Wyneken gegründete Landerziehungsheim Wickersdorf und des Öfteren Paul und Edith Geheeb in ihrer 1909 gegründeten Odenwaldschule. Sie nahm an den Diskussionen um die pädagogische Ausrichtung der Schule teil, weshalb die Geheebs sie – und das durchaus im Ernst – als  „Prophetin“ ihrer Schule bezeichneten. Paul Geheeb sah Ellen Keys Ideen zur „Schule der Zukunft“ weitgehend in der Odenwaldschule verwirklicht. 

Nur wenige Monate nach dem Erscheinen vom „Jahrhundert des Kindes“ gründeten Lizzie und James Gibson – beides Freunde von Ellen Key – in Göteborg das erste schwedische Reformpädagogik-Projekt: die „Högre Samskola“. Sie ist heute eine der größten freien Schulen in Schweden mit 1600 Kindern und Jugendlichen. Rilke, der 1904 Ellen Key besuchte, schrieb nach der Besichtigung dieser „Schule“:

„Es ist eine ungewöhnliche, eine völlig unimperativische Schule, eine Schule, die nachgibt, eine Schule, die sich nicht für fertig hält, sondern für etwas Werdendes, daran die Kinder selbst, umformend und mitbestimmend, arbeiten sollen … Die Kinder sind in dieser Schule die Hauptsache. Man begreift, dass damit verschiedene Einrichtungen fortfallen, die an anderen Schulen üblich sind, z.B.: jene hochnotpeinlichen Untersuchungen und Verhöre, die man Prüfungen genannt hat, und die damit zusammenhängenden Zeugnisse … Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit.“

Rilke war von der Högre Samskola derart beeindruckt, dass er mit seiner Frau Clara im Bremer Raum ebenfalls einen solchen Schulversuch wagen wollte, der aber scheiterte. Auf viele ähnliche Geschichten könnte man verweisen. Ola Stafseng, ein norwegischer Autor, meinte gar, in der Kinderkonvention der Vereinten Nationen Ellen Keys „Handschrift“ erkennen zu können. 

Letzte Jahre

„Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, reagierte Ellen Key mit Rückzug, reduzierter Produktivität und einem deutlichen Anflug von Depression. Die Korrespondenz mit ihren Briefpartnern wurde karger, und in den seltenen Briefen jener Zeit vernimmt man eine recht einsam gewordene Ellen Key.“ 

Zwar veröffentlichte sie 1919 noch einen schmalen Band über „Florence Nightingale und Bertha von Suttner – Zwei Frauen im Kriege wider den Krieg“ und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ einen Aufsatz mit dem Titel „Wie kann der Völkerbund kommen?“, der sich vorrangig dem Problem der Kriegsprävention mittels Völkerverständigung widmete, doch aus den Jahren 1920 bis 1926 sind weder Hinweise auf Veröffentlichungen noch Lesungen der schwedischen Pädagogin bekannt.

Ellen Key starb am 25. April 1926 in ihrem Haus in Strand am Vättersee, das heute zu ihrer Erinnerung als Museum dient.