Fremdsprachen

Wir Kinder empfanden die Existenz anderer Sprachen von jeher als eine Selbstverständlichkeit, denn Papa sprach mit seinen Eltern Deutsch, wenn sie zu Besuch kamen oder er mit ihnen telefonierte. Ich verstand nur ein paar Worte, nach deren Übersetzung ich gefragt hatte, aber dank Papas so vertrautem Tonfall war mir der grobe Sinn der Unterhaltung meist klar. Manchmal empfing Papa ausländische Studentinnen zu Kursen. Sie gingen mit uns in den Park oder in Ausstellungen, und so hatten wir Gelegenheit, Zeit mit Menschen aus einem anderen Sprachraum zu verbringen.

Von André Stern

Als ich zehn Jahre alt war, ergab es sich erstmals, wirklich eine Sprache zu erlernen. Ich verbrachte einen Monat bei meinem Bruder Bertrand in seinem Haus bei Köln. Er nahm mich überall mit hin: zu einem befreundeten Glaskünstler, zu den Gesangsproben seiner Lebensgefährtin und zu den Proben seines Trios; auf die Kirmes; zu seinen Vorträgen; zu einem befreundeten Modellbau-Liebhaber; in ein Cafe, in dem ein Zauberkünstler auftrat … Ich sah zu, wenn Bertrand sich um seine Bienen kümmerte, lernte auf seinem Mofa zu fahren, kümmerte mich mit Eifer um den Hühnerstall und seine Bewohnerinnen, und abends spielte ich mit den Kindern und Jugendlichen aus dem Dorf. Niemand, den ich während dieser eindrucksvollen Tage traf, sprach Französisch. Ich tauchte in die deutsche Sprache ein und Bertrand half mir, jeden Tag ein Wort, einen Satz oder eine neue grammatikalische Besonderheit zu lernen. Der eigentümliche Aufbau der deutschen Sprache traf mich nicht unvorbereitet: Ich hatte unzählige Male zugehört, wenn Papa für Mama Wort für Wort mit lauter Stimme deutsche Texte oder Bücher übersetzte.

Bei der Rückkehr nach Frankreich stellte ich erfreut fest, dass gewisse Verknüpfungen von allein erfolgten und die deutsche Sprache trotz der Rückkehr in ein frankophones Umfeld in meinem Geist mehr und mehr an Boden gewann.

Einige Monate später fand ich unter Mamas Büchern ein Lehrbuch mit dem verheißungsvollen Titel L’anglais en 90 jours et 90 leçons (Englisch in 90 Tagen und Lektionen). Von dieser Aussicht angetan, beschloss ich, mich auf das Abenteuer einzulassen. Aber die Lehrmethode sagte mir überhaupt nicht zu. Ich bat einen Freund, mir zu helfen; auch dieser Versuch schlug fehl. Die Chemie stimmte nicht. Ich ließ die Fremdsprachen erst einmal links liegen.

Doch nicht ganz: Mama interessierte sich für Latein und das weckte auch mein Interesse. Wir gingen einige Lektionen des Lehrbuchs durch und Mama erklärte mir die Fälle – ein harter Brocken für meine elf Jahre. Ich kannte schließlich alle Formen der „Rose” und des Verbs „sein”. Die das Lehrbuch begleitenden Kassetten machten mir am meisten Spaß; mit ihnen lernte ich einige Volkslieder auf Latein. Aber auch zu dieser – schulischen – Lehrmethode fand ich keinen richtigen Zugang.

Drei Jahre nach meinem ersten Aufenthalt bei Bertrand besuchte ich ihn noch einmal. Die vergrabenen Deutschkenntnisse erblickten wieder das Tageslicht. Von Beherrschung der Sprache konnte keine Rede sein, doch ich wusste genug, um mit den Jungs und Mädchen, die in der Zwischenzeit genauso viel gewachsen waren wie ich, abends im Dorf rudimentär kommunizieren zu können. Dann aber fand die zuvor beschriebene Entdeckung der Musik statt und sie beanspruchte mich ganz für sich. Das Sprach-Interesse schlief erneut ein.Q

Eines Tages trat ein junger Engländer über die Schwelle von Papas Galerie. Er bot Übersetzungsdienste an. um sich sein Studium zu finanzieren. Papa benötigte keine Übersetzungen, aber er machte ihm einen Vorschlag: „Sprechen Sie Englisch mit meinen Kindern. David lehnte energisch ab: „Nein. Nein, ich bin kein Englischlehrer! „Eben, genau deshalb interessiert es mich”, entgegnete Papa. Aber der Gedanke erschien David zu abwegig und er verließ die Galerie, um am nächsten Tag wiederzukommen und zu erklären, er habe eine Idee und wolle es versuchen.

Zu Beginn seines Studiums hatte er sich mit Theater und Pantomime beschäftigt. Er schlug vor, dies als Ausgangsbasis zu nehmen. um unsere Sprachpraxis zu fördern. Und das funktionierte wunderbar: Er wählte mit Umsicht urkomische kleine Szenen aus, darunter oftmals welche im Zusammenhang mit Winston Churchills Bonmots, und wir spielten sie und kugelten uns alle drei vor Lachen. Seine außergewöhnliche Mimik, seine gespielte Gelassenheit und gute Laune waren ebenso unwiderstehlich wie sein Spiel mit der englischen Sprache. Bei all dem Spaß gelang es ihm, unsere Aussprache zu verfeinern, unser Vokabular zu erweitern und über unser grammatikalisches Verständnis zu wachen. Zu den beiden wöchentlichen Englischterminen gesellte sich einmal wöchentlich eine Stunde Algebra mit David – denn das war sein Studienfach.

Aber bald schon nahm Davids Laufbahn eine unerwartete Wendung. Die Arbeit mit uns weckte seine einstige Leidenschaft für das Theater wieder: Unsere Begeisterung motivierte ihn dazu, alle seine Sketche wieder auszugraben, und er stellte fest, dass ihm das Schauspielmetier wirklich lag. Das ermutigte ihn, sich bei einem Fernseh-Casting vorzustellen. Er begann damit, dass er sich neben seinen Stuhl setzte und einen allgemeinen Heiterkeitsausbruch auslöste. Man wurde sofort auf ihn aufmerksam, er stürzte sich in seine Schauspielkarriere und diese ließ ihm bald schon keine Zeit mehr für uns. Meine Sprachausbildung lag wieder einmal brach.

Bis zu dem Tag. an dem ich das Konzept von Assimil kennenlernte. Es handelte sich um eine der ersten Ausgaben von L’ anglais sans peine (Englisch ohne Mühe), die noch von dem Erfinder der Lernmethode, Alphonse Chérel, selbst verfasst war; zu dem Buch gehörten drei altmodische Kassetten.

Für mich war es ein Schlüsselerlebnis: Die Methode verzichtete völlig auf Pflichtaufgaben (man musste nichts auswendig lernen) und basierte auf tagtäglicher Assimilation – es war, als hätte man sie mir auf den Leib geschneidert. Ich folgte dem Kurs gewissenhaft, indem ich täglich meine Lektion las, mir ohne Mühe die Lautschrift für die Aussprache und die Betonung vor Augen führte, die entsprechenden Kassettenaufnahmen hörte, Herrn Chérel für seine so fein ausgeklügelte Arbeit bewunderte, alle Anmerkungen las und über die Sprache hinaus zahlreiche Details der britischen und nordamerikanischen Kultur erfuhr. Ich machte Fortschritte wie mit Siebenmeilenstiefeln. Es ist, als wohnte man einem Wunder bei, wenn man beginnt, Liedtexte oder Bedienungsanleitungen zu verstehen und Filmen im Originalton folgen zu können!

Die einzige Verpflichtung – nämlich ausnahmslos jeden Tag eine Lektion durchzugehen – entsprach vollkommen der Weise, wie ich funktioniere, und so hatte ich den ersten Band innerhalb weniger Monate verinnerlicht. Das Eintreffen des zweiten Bandes empfand ich, als fiele Manna vom Himmel, ebenso wie das des dritten und letzten Bandes, der englische und amerikanische Geschichten enthielt. 

Während eines Aufenthalts auf den Kanalinseln gemeinsam mit Zelda, Némo und ihren Eltern konnte ich bald vor Ort feststellen, wie tief die englische Sprache in mich eingedrungen war.

Einige Monate später schenkte mir Papa den Assimil-Kurs für die deutsche Sprache. Da er meine Vorlieben kannte, hatte er eine alte Ausgabe gesucht und gefunden. Diese Sprache, der ich mich bereits unzählige Male genähert hatte und die mich von klein auf umgab, zeigte >>

sich mir nun in ihrer ganzen strukturellen Pracht. Die einzelnen Fragmente des bis dahin Erlernten wurden aufgewirbelt, ordneten sich vor meinen Augen und fügten sich wie Puzzlestücke in ein großes Ganzes. Mit frappierender Klarheit fanden sie ihren Platz inmitten der Vielzahl neuer Kenntnisse, die ich, Seite für Seite, Tag für Tag, mit Entzückung erntete.

Ich war unersättlich: Statt einer Lektion durchwanderte ich fünf oder sechs pro Tag. Niemand unterbrach mich, keine anderen Pflichtfächer kamen meiner Prioritätensetzung in die Quere, ich widmete der deutschen Sprache die Hälfte des Tages, und am Abend trug ich Papa meine täglichen Errungenschaften vor, wobei wir gemeinsam an meiner Aussprache und meinem Verständnis feilten. Ich meinte, in mir eine genetische Verbindung zur deutschen Sprache zu verspüren, und Papa, der gleichzeitig zu seinen eigenen kulturellen Wurzeln zurückfand, die er nach dem Krieg totgeschwiegen hatte, teilte meine Begeisterung und offenbarte mir die Schätze der deutschen Dichtung. Mich faszinierte das Spiel, das die unzähligen Einstellungsmöglichkeiten dieser Sprache erlauben.

Nach drei Monaten hatte ich den Kurs abgeschlossen, nun begann meine eigentliche Zusammenarbeit mit Papa. Von da an begleitete ich ihn jeden Sommer auf seinen Vortragsreisen und Kurs-Tourneen. Jeweils zwei Monate lang waren wir in unterschiedlichen Ländern unterwegs, vor allem aber im deutschsprachigen Raum, in der Schweiz, in Österreich und Deutschland. Ich fungierte als sein Assistent, kümmerte mich um die Technik und tauchte so weit ein in Papas Arbeits- und Forschungsbereich, dass mich seine Entdeckungen, seine virtuose Art, sie zu vermitteln, völlig absorbierten. Mir erschloss sich die Bedeutung des Werks meines Vaters in seinem ganzen Ausmaß und in seinen unzähligen Implikationen; ich entdeckte den unerschütterlichen Mut, die wissenschaftliche Redlichkeit sowie die unglaubliche Objektivität seiner Arbeit – und es ergriff mich eine tiefe, stille Bewunderung.

Wir sprachen rund um die Uhr Deutsch: nicht nur mit den Menschen um uns herum, sondern auch untereinander, sobald wir die französische Grenze passiert hatten. Zu Anfang war ich etwas zurückhaltend, doch bald stellte ich überrascht fest, wie frei ich mich in dieser Sprache bewegen konnte. Es war ein beglückendes, sonderbares Gefühl, als ich schließlich auf Deutsch dachte und träumte.

Ich las einige Bücher, die mir Papa empfohlen hatte, ohne auf größere Schwierigkeiten au stoßen; ab und zu schlug ich unbekannte Wörter im Wörterbuch nach. Ich las weiter und weiter, die großen

Klassiker, entdeckte Rilke, Goethe, Borchert, Matthias Claudius und viele mehr. Von meinen bevorzugten Schriftstellern – Heinrich Heine und Hugo Hartung – habe ich fast alles gelesen.

Deutsch, die Sprache meines Vaters, hat eine bestimmte neue Struktur in meine Gedanken und meine Art zu handeln gebracht.

Einige Jahre später lernte ich mit Hilfe der Assimil-Sprachkurse noch Latein und dann Spanisch. Ich hatte logischerweise keine Gelegenheit, die lateinische Sprache in der Praxis zu üben, doch Spanisch wurde während unserer Tourneen mit Delphine durch eine bunte Gruppe von Spaniern, die mit uns reiste, ziemlich wichtig. Ich gewann eine wertvolle Freundin, mit der ich monatelang intensiv hin und her schrieb.

Ich würde gern noch weitere Sprachen erlernen, und gerade habe ich entdeckt, dass Assimil vor Kurzem einen Band zum Erlernen der Hieroglyphen herausgegeben hat …