Die Sprache und das Ei

Was hat Sprache mit einem Ei gemeinsam, werden Sie sich berechtigterweise fragen. Die Verbindung wird deutlich, wenn wir noch die Henne und die Gesellschaft hinzunehmen. Ebenso wenig wie die Frage „Was war zuerst, die Henne oder das Ei?“ in die eine oder andere Richtung beantwortet werden kann, verhält es sich mit Gesellschaft und Sprache. Das Huhn legt ein Ei. Und aus dem Ei schlüpft ein Huhn. Gesellschaftliche Gegebenheiten formen Sprache, und die Sprache beeinflusst wiederum das Denken der Menschen, die sie verwenden, und somit die Denkweisen, Sichtweisen und auch Vorurteile einer Gesellschaft.

Von Karin Rössel

Ständig im Wandel

Wenn Sprache ein starres System wäre, erschiene der Duden nicht alle paar Jahre in einer neuen Auflage. In der 40jährigen Geschichte des Dudens halten wir heute bereits seine 27. Auflage in Händen. Wörter wie  Fair Trade, Fake News, Gendergap und Hashtag beispielsweise finden sich erst seit 2017 in diesem mächtigen Regelwerk der deutschen Sprache, welches nicht nur von Lehrern dazu herangezogen wird zu bestimmen, was richtig ist und was falsch. Und dabei ist so ein Nachschlagewerk noch ein relativ starres System, wenn man es mit der tatsächlich gesprochenen und geschriebenen Sprache vergleicht. 

Neue Wörter erscheinen nicht nur alle paar Jahre, Sprecher kreieren sie laufend, um das besser ausdrücken zu können, was um sie herum (und in ihren eigenen Gedanken und Gefühlen) geschieht. Auch wenn diese Wortkreationen nicht im Duden zu finden sind, verstehen wir sie meist, weil sie aus dem Zusammenhang heraus Sinn ergeben. Manche solcher Wortschöpfungen werden von anderen Menschen weiterverwendet, zuerst vielleicht nur in der Clique, später auch von einer größeren Gemeinschaft von Sprechern. Viele Begriffe verschwinden wieder, aber einige setzen sich durch und landen schließlich im Duden. Gleichzeitig verschwinden Wörter auch aus unserem Sprachgebrauch, entweder, weil es die dazugehörigen Dinge schlicht nicht mehr gibt (Wählscheibe), oder weil sie durch andere Wörter ersetzt werden. Auch österreichische Jugendliche würden „geile“ Dinge kaum noch als „leiwand“ bezeichnen. Apropos geil: Dieses wandelhafte Adjektiv macht sehr deutlich, dass Worte, auch wenn sie fortbestehen, oft nicht mehr dieselben sind wie früher, weil sich ihre Bedeutung grundlegend verändern kann. Ursprünglich hieß geil so viel wie „üppig wuchernd“, „überschwenglich“, später hatte es ausschließlich sexuelle Bedeutung, und heute ist es ein Allerweltsadjektiv, das für alles verwendet wird, was wir gut finden.

Sprachwandel beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Lexik, er macht auch vor der Grammatik nicht halt. Und das ist der Bereich, der schon seit Jahrhunderten die meisten Klagen hervorruft bei jenen, die ihre Sprache zu „bewahren“ versuchen. „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“, hören wir beispielsweise, und  der vermeintliche Verfall der deutschen Sprache ist seit einem halben Jahrhundert ein Dauerbrenner. So titelte der Spiegel bereits 1984 „Eine Industrienation verlernt ihre Sprache“. Tatsache aber ist, dass Sprache sich sehr wohl verändert, nicht aber „den Bach runter“ geht, sonst wären wir schon längst nicht mehr in der Lage, effektiv zu kommunizieren. Auch das Englische besaß früher beispielsweise eine „ausgefeiltere“ Deklination. Der Wegfall der Fälle hätte womöglich zu größeren Missverständnissen geführt, wäre nicht gleichzeitig die Wortstellung fixiert worden, sodass in dem Satz „The child helps the lady“ nach wie vor eindeutig das Kind der Akteur ist, und nicht etwa die Dame. Es lässt sich also auch ohne Akkusativ gut leben und kommunizieren.

Gesellschaft und Sprache

So wie die Sprache ist natürlich auch die Gesellschaft ständig im Wandel. Menschen formen Sprache nach den Lebenswelten, die sie umgeben. Somit ist die Sprache immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Allerdings verändert sich Sprache nicht so rasch, wie es die äußeren Gegebenheiten manchmal tun, vor allem nicht, seit Sprache durch normierende Nachschlagewerke geordnet und „bewahrt“ wird. Von einer Wortschöpfung bis zum Eintrag in den Duden ist es ein langer Weg. Somit zeichnet die Sprache zwar ein Bild der Gesellschaft, aber immer ein veraltetes. Viele Begriffe und Sprachwendungen zeigen uns, wie das Leben früher war. Zum Beispiel weiß heute kaum noch jemand, woher der Ausdruck „das Zünglein an der Waage sein“ kommt, denn schon lange verwenden wir keine Waagen mit zwei Waagschalen mehr. Diese Waagen hatten zusätzlich zu dem großen Zeiger auf einer Skala meist noch einen kleineren Zeiger, das sogenannte Zünglein, das bei ausgewogenen Waagschalen im Zentrum der Anzeige zum Stillstand kam und somit kleinste Gewichtsunterschiede der beiden Waagschalen anzeigte.

An dem „Zünglein an der Waage“ wird sich niemand stoßen, Redewendungen wie diese können, auch wenn sie veraltet sind, durchaus als eine Bereicherung der Sprache betrachtet werden. Anders verhält es sich dort, wo Sprache alte Vorurteile widerspiegelt, die heutzutage gottseidank als diskriminierend wahrgenommen werden. Menschen mit dunkler Hautfarbe als „Neger“ zu bezeichnen, ist bereits seit den 1970er Jahren berechtigterweise ein No-Go, ebenso sollte es sich selbstverständlich mit „Tschusch“, „Schwuchtel“, „Weiberklatsch“ und „Krüppel“ verhalten, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn unsere Sprache eine Weltsicht widerspiegelt, die wir nicht mehr teilen, dann ist es durchaus angebracht, dem von Natur aus trägen Sprachwandel ein wenig auf die Sprünge zu helfen und aktiv Veränderung zu fordern.

Wenn Sie ein Unternehmen hätten und es an Ihre Nachkommen übergeben wollten, wäre es Ihnen dann lieber, diese würden das Unternehmen „bewahren“, oder es weiterentwickeln, damit es dem aktuellen Markt standhält? Ohne Veränderung gibt es keine Entwicklung, und wir verhalten uns sicherlich nicht undankbar unseren Vorfahren gegenüber, wenn wir unsere Sprache an die neuen Erkenntnisse unserer Gesellschaft anpassen. So ist es zum Beispiel durchaus richtig und wichtig, dass wir mit unserer Zeitschrift Leserinnen und Leser ansprechen, weil wir nicht (mehr) der Meinung sind, dass die Männer auch für ihre Frauen stehen und für sie sprechen können. Wenn wir von Wertstoffsammlung sprechen, dann wird klar, dass dort nicht nur wertloser Müll sortiert wird. Und dass Begriffe wie Akzeptanz, Empathie, Resonanz und Selbstwirksamkeit Einzug in die Pädagogik gehalten haben, ist sicherlich auch nicht verkehrt.

In der Lernwerkstatt nannten sich die Erwachsenen von Anfang an nicht „Lehrer“, denn sie  wollten nicht vor und über den Kindern stehen und ihnen „Wissen vermitteln“. Sie begannen mit dem Begriff „Betreuer“, aber auch dieser war nicht wirklich passend, weshalb wir sie heute als „Begleiter“ bezeichnen und sehen. Auch wir Eltern wollen unsere Kinder nicht „erziehen“ sondern „begleiten“. Und dieser Terminus ruft uns immer wieder in Erinnerung, dass jedes Kind in seiner Entwicklung seinem eigenen Plan folgt; Dass wir unseren Kindern Wegbegleiter sind, sie aber nicht in eine bestimmte Richtung drängen dürfen, die uns lieb wäre; Dass wir Vertrauen haben dürfen in unsere Kinder, dass sie sich „richtig“ und „gut“ entwickeln werden, wenn wir ihnen den Freiraum geben, ihren eigenen Interessen nachzugehen und ihre individuellen Begabungen zu entwickeln.

Die Sprache und das Denken

Die Diskussion ob und in wie weit die Sprache unser Denken beeinflusst, hat Jahrtausende Tradition. Platon (~400 v.Chr.) setzte Denken und Sprechen gleich, indem er formulierte, Denken sei das „innere Gespräch der Seele mit sich selbst“. Er war der Auffassung, ohne die Sprache gäbe es auch kein Denken, und alles Denken sei so mit der Sprache verknüpft. Auch der griechische Philosoph >>

 Aristoteles (284-322 v.Chr.) war der Meinung, dass nur, wer über Sprache verfügt, auch denken könne. Die Theorie, dass Sprache unser Denken beeinflusst, wird im Allgemeinen jedoch Wilhelm von Humboldt (1767-1835) zugeschrieben, der die Sprache „das bildende Organ des Gedankens“ nennt, und etwa ein Jahrhundert später schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951): „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Die entgegengesetzte Position wurde unter anderem von Arthur Schopenhauer (1788-1860) vertreten, der drastisch formulierte, dass „Gedanken in dem Moment sterben, da sie durch Worte verkörpert werden“. Auch Albert Einstein soll gesagt haben: „Die Worte oder die Sprache, in schriftlicher oder gesprochener Form, scheinen in meinem Denkmechanismus keine Rolle zu spielen.“ Auf sie beruft sich der amerikanische Psychiater Steven Pinker (1954-heute), wenn er erklärt, dass der Geist in einer „Gedankensprache“ denkt, die er „mentalesisch“ nennt. Seiner Auffassung nach wird die Sprache nur zur Wahrnehmung und zum Abtransport der Gedanken benutzt.1

Heutzutage weiß man, dass die Wahrheit, wie so oft, dazwischen liegt. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Denken durchaus auch ohne Sprache funktionieren kann, und dass sogar Tiere zu erstaunlichen Denkleistungen fähig sind. Allerdings ist ebenso belegt, dass Menschen unterschiedlicher Muttersprache die Welt um sich herum unterschiedlich wahrnehmen. Zum Beispiel scheinen unwillkürliche Vorurteile in besonders starkem Maß über die Sprache transportiert zu werden. Überraschenderweise zeigen sogar Menschen, die mit zwei Sprachen aufwachsen, eine unterschiedliche Grundeinstellung, je nachdem in welcher Sprache sie gerade denken. So zeigten in einer Studie von Shai Danziger an der Ben-Gurion University of the Negev (Israel) arabisch-hebräische Zweisprachler eine positivere Grundhaltung gegenüber Juden, wenn sie auf Hebräisch getestet wurden, als bei den gleichen Tests auf Arabisch.2

Ebenso ist es heute erwiesen, dass bei Kindern unterschiedliche kognitive Fähigkeiten gefördert werden, je nachdem in welcher Sprachkultur sie aufwachsen. Sichtbar wird das immer dann, wenn Sprachen große Unterschiede aufweisen. Dass die Thaayorre-Aborigines aufgrund ihrer besonderen Sprache mit einem inneren Kompass aufwachsen, wurde bereits im vorangehenden Artikel veranschaulicht. Auch gibt es Sprachen, die nicht zwischen blau und grün unterscheiden, wie zum Beispiel die der Tarahumara in Mexiko, deren  subjektives Empfinden für die Ähnlichkeit von Farbschattierungen im blau-grünen Bereich deshalb auch nur schwach entwickelt ist. Lernen Menschen jedoch neue Farbwörter kennen, so verändert dies auch ihre Fähigkeit, Farben zu unterscheiden. Die Muttersprache bedingt sogar, wie früh ein Kind seine eigene Geschlechtszugehörigkeit erkennt. Hebräische Kleinkinder wissen im Schnitt um ein ganzes Jahr früher, ob sie ein Bub oder ein Mädchen sind, was daran liegt, dass das Hebräische das Geschlecht ausgiebig bezeichnet – sogar im Wort „du“ – das Finnische hingegen kaum.2

Abgesehen von diesen plakativen Beispielen formt die Sprache, in der wir aufwachsen, natürlich auch auf wesentlich subtilere Weise unser Denken. Je nachdem welche Kategorien die Sprache nutzt um die Welt einzuteilen, bilden sich auch Kategorien in unserem Denken. Ich erinnere mich an einen Tag im ersten Lernwerkstatt-Jahr meines Sohnes, als er uns erklären wollte wer sein Schulkollege XY sei. Wir Erwachsenen konnten den Namen trotz ausführlicher Beschreibung immer noch nicht zuordnen, bis er schließlich sagte: „Na der mit den lustigen Haaren“, und uns klar wurde, dass er von dem einzigen dunkelhäutigen Kind seiner Schule sprach. „Hautfarbe“ war für ihn noch kein Kategorisierungs-Merkmal, warum auch, selbst wir „Europäer“ haben doch so unterschiedlich gefärbte Haut. 

Doch nicht nur im Heranwachsen wird unser Denken durch Sprache beeinflusst, sondern auch im Erwachsenenalter und das immerzu. Politiker verwenden Sprache oft ganz bewusst so, dass sie in uns gewisse Erinnerungen und Emotionen weckt. So werden Inhalte in den gewünschten „Rahmen“ gestellt, Linguisten nennen das auch „Framing“. Werfen wir zum Beispiel einen kurzen Blick auf eine Wortkreation der letzten Jahre: „Asyltourismus“. Das Wort „Tourismus“ bezeichnet Reisen zum Vergnügen, ein Tourist reist in ein fremdes Land um sich zu entspannen, Neues zu entdecken oder Abenteuer zu erleben. Aber wie passt das zusammen mit „Asyl“? Gar nicht, denn ein Asylant reist nicht freiwillig in ein schönes Land, noch kann er in seine Heimat zurückkehren. Er tritt eine Reise ins Ungewisse an, in der Hoffnung auf Schutz und Hilfe. Diese beiden Wörter zu verbinden ist schlichtweg falsch, suggeriert jedoch, dass Flüchtlinge aus Lust und Laune nach Europa kommen und wir ihnen deshalb nicht Schutz bieten müssen.3 Auch der Begriff „Heimat“, der heutzutage so gerne auf Wahlplakaten prangt, ist nicht zufällig gewählt und suggeriert, dass das Land uns allein gehört, uns, die wir es Heimat nennen.

Sprache kann gar nicht neutral sein, sie weckt immer auch Erinnerungen und Emotionen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass uns bewusst ist, dass auch wir von Sprache beeinflusst werden. Gerade in politischen Diskussionen sollten wir darauf achten, bedeutungsschwere Schlagwörter nicht einfach nachzuplappern, sondern darüber nachdenken, welche Konnotationen in den jeweiligen Phrasen mitschwingen, und warum gerade diese hier verwendet wurden. Auch im täglichen Umgang miteinander und vor allem im Umgang mit unseren Kindern lohnt es sich, unseren eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Denn durch die Sprache verändern wir auch ein Stück weit die Welt.