Sprache und Weltsicht

Als ich vor einigen Jahren in der Situation war, an der Schule, an der ich unterrichte, 15 Jugendliche aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, Ghana, … bei ihrem Deutsch-Lernen zu begleiten und zu unterstützen, stellte sich mir eine grundsätzliche Frage: Wie kann ich Jugendlichen die deutsche Sprache näher bringen, wenn ich keine Ahnung von deren Muttersprache habe?

Von Maria Altmann-Haidegger

Der Lehrgang  „Deutsch als Zweitsprache im schulischen Bereich“, den ich in der Folge besuchte und der von Kevin Perner geleitet wurde, beantwortete meine Fragen vordergründig nicht, warf aber dafür weitere auf.

Muttersprache, Erstsprache, Herkunftssprache – welcher Begriff ist angebracht? Gibt es auch eine Vatersprache?  Impliziert der Begriff Erstsprache eine Reihung, die die Zweitsprache an die zweite Stelle stellt? Welcher Begriff ist angebracht, wenn ein Kind zwei oder mehrere Sprachen gleichzeitig lernt und diese von mehreren Personen übertragen werden, nicht nur von der Mutter?

Spannend fand ich es auch zu erfahren, dass deutsch sprechende Personen, wenn sie gebeten werden, Bilder, die im Laufe ihres Lebens entstanden sind, chronologisch zu ordnen, diese von links nach rechts sortieren, während sie hebräisch oder arabisch sprachige Menschen von rechts nach links sortieren, was offensichtlich mit der Schreibrichtung zusammenhängt. Wie fließt die Zeit? Menschen mit unterschiedlichen Sprachen sehen das offenbar unterschiedlich.

Die Wahrnehmung von Zeit und Raum

Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Raum und Zeit ist die Sprache der Thaayorre im Norden Australiens besonders eindrucksvoll: Im Kuuk Thaayorre gibt es keine Wörter für links und rechts, statt dessen verwenden die Thaayorre Himmelsrichtungen. So könnte ein Satz lauten: „Es sitzt eine Ameise auf deinem südlichen Arm“. Schon als Kinder können die Thaayorre in geschlossenen Räumen zielgenau die Himmelsrichtungen benennen. Die Erfordernisse dieser Sprache trainieren demnach eine erstaunliche kognitive Fertigkeit: der Orientierungssinn der Thaayorre ist viel besser ausgebildet als der von Menschen mit anderen Sprachen.

Die Zeit fließt für die Thaayorre von Osten nach Westen. Je nachdem, wie die Person, die die Bilder chronologisch ordnet, sitzt, würde sie die Bilder von links nach rechts, von oben nach unten oder von hinten nach vorne  … ordnen – also von Osten nach Westen.

Die Sprache der Pirahã-Indianer

Wie sehr unsere Sprache unser Wahrnehmen und Denken beeinflusst, zeigt sehr eindrucksvoll auch die Sprache der Pirahã, eines Volkes im Amazonasgebiet Brasiliens. Der Linguist Daniel Everett beschreibt seine Erfahrungen mit den Pirahã-Indianern am Amazonas in seinem Buch „Das glücklichste Volk“. Die Sprache der Pirahã kennt keine Nebensätze, besitzt nur drei Vokale und sieben Konsonanten, kann gesungen, gesummt oder auch gepfiffen werden. Die Pirahã verwenden keine Zahlen, es gibt nur „eins“, „zwei“ und „viele“. Nicht einmal wortlos, an den Fingern zum Beispiel, zählen sie ab, wie viele Piranhas sie fürs Abendessen grillen müssen, wie viele Tage das Fleisch des erlegten Ameisenbären vorhält oder was sie von dem brasilianischen Händler als Gegenleistung für ihre sechs Körbe Paranüsse erwarten. 

Sie kennen keine Vergangenheitsformen – ihr Denken ist auf die Gegenwart fixiert – sie leben im Hier und Jetzt. „Alle Ereignisse sind verankert im Moment des Sprechens“, schreibt Everett. Infolgedessen gibt es keinen Schöpfungsmythos, nur wenige erinnern sich an die Namen aller Großeltern und sie sorgen auch höchstens für einige Tage vor. Daniel Everett war Missionar und wollte die Pirahã bekehren, doch sie konnten mit den Erzählungen von einem Jesus, der vor vielen Jahren gelebt hatte und den niemand von ihnen persönlich kannte, nichts anfangen – und so gab schließlich der Missionar unter dem Einfluss der Pirahã seinen Beruf auf und veränderte sein Leben radikal.

Diese unterschiedliche Wahrnehmung der Welt hat mich sehr beeindruckt. Wie anders wäre unsere Weltsicht, wenn wir eine Sprache sprechen würden, die keine Vergangenheitsform kennt? Welche Bedeutung hätten historische Ereignisse? Welche Bedeutung hätte Geld, würden bei uns Zahlen keine Rolle spielen? Wie anders würde dadurch unsere Gegenwart aussehen? 

Frau oder Herr Mond?

„Beeinflusst das grammatische Geschlecht von Wörtern unsere Weltsicht?“, fragt Kathrin Sperling im gleichnamigen Artikel aus dem Babbel-Magazin und stellt ein Experiment vor: Objektnamen, die im Deutschen und Spanischen ein unterschiedliches Geschlecht haben, wurden Muttersprachler/innen beider Sprachen vorgestellt und sie sollten die ersten drei Adjektive anführen, die ihnen zu den jeweiligen Objekten in den Sinn kamen. 

Das Ergebnis: Die Sprecher der jeweiligen Sprache folgten den grammatischen Geschlechtern ihrer Muttersprache  und schrieben grammatisch weiblichen Objekten feminine Adjektive, grammatisch männlichen Objekten dagegen maskuline Adjektive zu. Der Schlüssel – beschrieben als hart, schwer, gezackt, metallen, … hat im Deutschen auch einen Bart. Im Spanischen ist das Wort für Schlüssel weiblich und es erhielt die Attribute golden, klein, lieblich, glänzend. Das Wort Brücke dagegen ist im Deutschen weiblich und ihr wurden die Adjektive schön, elegant, fragil, friedlich, hübsch und schlank zugeschrieben, während der spanische „el puente“ als groß, gefährlich, lang, stark, stabil und gewaltig beschrieben wurde.

„Wenn wir uns vor Augen führen, dass Sprecher verschiedener Sprachen tagtäglich hunderte, vielleicht sogar tausende Male das Genus von Nomen durch Artikel, Pronomen, angeglichene Adjektive oder sogar Verben wiedergeben, dann ist es also recht wahrscheinlich, dass sich die Welt eines deutschen Muttersprachlers mit seinen zackigen Schlüsseln, eleganten Brücken und männlichen Monden doch ziemlich von der einer spanischsprachigen Person mit winzigen Schlüsseln, gefährlichen Brücken und männlichen Sonnen unterscheidet. Und englische Muttersprachler? Die haben, glaube ich, das geschlechtslose Fräulein und die weibliche Rübe immer noch nicht so ganz verkraftet.“, folgert Kathrin Sperling.

In der deutschen Sprache gibt es das grammatische Geschlecht. Trotzdem ist es zum Beispiel vielerorts noch üblich, bei Berufsbezeichnungen die männliche Form als Standard vorzugeben: Ärzte, Lehrer, Verkäufer. Gemeint sind alle. Würde man, wie die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch vorschlägt, die weibliche Form als Standard nehmen, also Ärztinnen, Lehrerinnen, Verkäuferinnen – hätte man dann noch immer das Gefühl, dass alle gemeint sind?

Eine geschlechtergerechte Sprache ist nicht die wichtigste Maßnahme zu mehr Gleichberechtigung, aber es wird auch nicht ohne gehen.

In vielen Sprachen wie dem Indonesischen gibt es kein grammatisches Geschlecht, also kein „er“, „sie“ oder „es“. Die Kognitionspsychologin Lera Boroditsky führte ein Gespräch mit einer Person, deren Muttersprache Indonesisch war. Boroditsky erzählte über eine Person, mit der sie befreundet war und ihr Gegenüber stellte Fragen zu dieser Person. Erst in der 21. Frage wollte sie wissen, ob diese Person männlich oder weiblich sei. 

Wenn ich mir überlege, wie weit könnte ich der Geschichte einer Person folgen und mir die erzählte Person vorstellen, ohne den Drang zu verspüren, ihr Geschlecht wissen zu wollen?

Kübra Gümüsay „Sprache und Sein“

Vor kurzem habe ich das Buch „Sprache und Sein“ gelesen und es war zum Thema Sprache eine neue Offenbarung für mich. Kübra Gümüsay setzt sich seit langem für Gleichberechtigung und Diskurse auf Augenhöhe ein. In ihrem ersten Buch geht sie der Frage nach, wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt. Sie zeigt, wie Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden – und sich nur als solche äußern dürfen.

Während meines Lehrgangs „Deutsch als Zweitsprache“ wurde es  mir ein Anliegen, die Sensibilität im Umgang mit meiner Ausdrucksweise und im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund zu erhöhen. Die Sprache diesbezüglich zu hinterfragen:

Wir als Mehrheit sehen die Minderheit der anderen Kultur als „die Anderen“, es gibt ein Wir und ein Nicht-Wir, wodurch die Unterschiede herausgestellt werden und uns suggeriert wird, die Herkunft würde die Identität bestimmen, so der Bildungswissenschaftler Paul Mecheril. Dahinter vergessen wir oft, dass es sich in der jeweiligen Situation um konkrete Personen handelt, die mehr sind als ihr kultureller Hintergrund.  Diesen Ansatz fand ich für mich persönlich sehr hilfreich, nämlich als Lehrerin in einer Sprachstartgruppe auszugehen von der Frage: Was braucht dieser Jugendliche gerade jetzt?

Kübra Gümüsay schreibt in „Sprache und Sein“ dazu: „Dieses Buch folgt einer Sehnsucht: nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Nach einem Sprechen, das sie in ihrem Facettenreichtum existieren lässt.“, denn: „Sprache kann unsere Welt begrenzen – aber auch unendlich weit öffnen.“