Herzensbildung – on the job

Gibt es passende und unpassende Orte für Herzensbildung? Muss mensch in manchen beruflichen Feldern und Situationen eben funktionieren und Vorgaben erfüllen und sich als fühlendes und spürendes Wesen zurückziehen? Oder sind genau diese Bereiche die wichtigsten Lernfelder für Herzensbildung? Und: was bedeutet Herzensbildung in diesem Zusammenhang überhaupt? Von Michael Nußbaumer.

Trennung der Sphären

Die Trennung unserer Lebenswelt in eine private und eine berufliche Sphäre ist nicht naturgegeben, sondern eine historische Entwicklung – die verbunden war mit Widerstand und Gewaltanwendung.

Mit der Trennung der Sphären wurde auch das »Oikos« aufgelöst, also die Hauswirtschaft als Einheit von Produktion und Reproduktion. Es haben sich unterschiedliche Modi und Verhaltensformen für die jeweilige Sphäre gebildet oder vertieft. Geht es im privaten oder familiären Bereich mehr um »care« – der deutsche Begriff Pflege drückt nicht aus, was ich damit bezeichnen will – und dominieren hier Werte wie Zuwendung und Zusammenarbeit, so geht es im beruflichen Bereich stärker um Konkurrenz und strategisches Denken. Zugespitzt könnte man sagen, im einen Bereich dominiert die Emotion und im anderen die Ratio. Aus dieser Trennung ist auch die »klassische« –  eigentlich: kapitalistische – Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern entstanden oder durchgesetzt worden, die ja längst wieder in Veränderung ist.

Vielleicht denken Sie sich beim Lesen dieser Zeilen schon: Naja, ganz so ist das auch wieder nicht. In der Familie braucht es extrem viel Planung, im Job spielen die Gefühle entscheidend mit! Das ist natürlich richtig. Dennoch lässt sich sagen, dass die beiden Sphären jeweils unterschiedliche Qualitäten einladen und ausgrenzen: Gefühle sind eher im privaten Bereich wirklich zu Hause, kühles Kalkül prägt das berufliche Feld viel stärker, jedenfalls vordergründig betrachtet. Die meisten Menschen wechseln zwischen diesen beiden Bereichen hin und her – und leben hier etwas, was sie dort nicht zulassen, vielleicht nicht einmal wahrnehmen. Der harte Geschäftsmann, der seine weichen und verletzlichen Seiten erst zu Hause auspackt oder versorgen lässt; der im Beruf Entscheidungen trifft, die er als Vater eigentlich nicht gut heißt, wäre ein klassisches Beispiel – ebenso gültig für die toughe Geschäftsfrau.

Wobei: nicht nur die Rollenklischees verwischen sich zunehmend und verlieren ihre Gültigkeit – auch die strikte Trennung zwischen beruflichem und privatem Bereich lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Und da geht es nicht nur um Themen wie ständige Erreichbarkeit und Home-Office, sondern auch um die zunehmende Wichtigkeit von »soft skills« im Job, während gleichzeitig im privat-familiären Bereich mittlerweile eigentlich auch schon Managementfähigkeiten erforderlich sind. 

Diese Entwicklung hat Licht- und Schattenseiten

Die Aufhebung der strikten Trennung der Sphären hat viel Gutes:

Pionier*innen verwirklichen Unternehmen, in denen die Ganzheit des Menschen wieder eingeladen ist – also auch Gefühle, Intuitionen und ein starkes Stück Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Ferdinand Laloux hat mit seinem Buch »Re-Inventing Organizations« einige solcher Unternehmen vorgestellt und untersucht und damit für Furore gesorgt. Es handelt sich dabei nämlich nicht nur um kleine, eher familiäre oder »freundschaftlich geführte« Unternehmungen, sondern um Organisationsgrößen mit einigen tausenden Mitarbeitenden. Berufsarbeit wird hier nicht als notwendiges Übel oder als Karriereweg gesehen, bei dem Gefühle besser außen vor bleiben, sondern auch und vor allem als Persönlichkeitsbildung und Selbstverwirklichung in Abstimmung mit anderen. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Eine der Kritikpunkte an Lalouxs Darstellung ist tatsächlich die »rosarote Brille«, mit der diese Entwicklungen gesehen und gezeichnet werden – beziehungsweise werden jene Firmen gezeigt, die es geschafft haben, Selbstorganisation und Partizipation zu leben, wo es doch so viele gibt, die daran scheitern und frustriert aufgeben. Dennoch ist seine Arbeit und die von vielen anderen wegweisend für ein neues Verständnis unseres Arbeitslebens und zur Wiederherstellung >>

unseres Selbst-Bildes als Menschen, die verbunden mit all unseren Wahrnehmungen gemeinsam kluge Entscheidungen treffen. Auch der »Megatrend Achtsamkeit« gehört hier erwähnt. Lebenslanges Lernen bedeutet in diesem Sinne nicht, Kompetenzen anzuhäufen, sondern als Mensch zu reifen – und das ist, in meinem Verständnis, Herzensbildung. Ein Mensch, der in seiner Gesamtheit wächst und nicht in einem Bereich immer geschickter wird, während andere wesentliche Bereiche verkümmern. Ein Mensch, dessen Ganzheit sich in all seinen Handlungen ausdrückt – nicht unterschiedslos, sondern jeweils der Situation angemessen; aber immer aus seinem Wesenskern heraus, der sich mehr und mehr enthüllt.

In meiner Weltwahrnehmung, auch als Supervisor und Organisationsberater, dominieren jedoch häufig andere Bilder. Die Fragmentierung nimmt zu, der Termindruck steigt, Emotionen gären untergründig, bis sie auf eine Art ausgedrückt werden, die Triggerpunkte trifft und zu Konflikten führt, die eher verbrannte Erde zurücklassen, als ein tieferes Miteinander. Dazu kommen hohe Fluktuationsraten und ständige Adaptierungen, noch bevor der vorausgegangene Entwicklungsschritt verarbeitet werden konnte. Wir begegnen uns »on the job« oft weniger als ganze Menschen, sondern eher als eine Ansammlung von Mustern und Funktionsweisen, die sich einander leicht in die Quere kommen.

Vorsicht vor zu einfachen Rezepten!

Heißt das jetzt, wir sollen im Job unser Herz öffnen, unsere Verletzlichkeit wahrnehmen und zeigen und das “ganz Menschsein” wagen? Ich plädiere keineswegs dafür, alles zu vermischen und in jedem Bereich in gleicher Art und Weise unsere Gefühle zu erleben und auszudrücken! Aber: ich halte es für ein anstrebenswertes Ziel, sich selbst in jeder Facette des eigenen Lebens ganz und immer feiner wahrzunehmen und sich als Gesamtheit zu erleben, die sich eben in unterschiedlichen Facetten ausdrückt.

Die Spaltung zwischen privatem und beruflich-öffentlichem Ich zu überwinden, bedeutet allerdings meist aufwändige und detailgenaue Differenzierungsarbeit. Es geht dabei auch darum, zu verstehen, »was wo dran ist und was bei einem / einer selbst dran ist.« Für einen Menschen, der zum Beispiel seinen Willen bereits stark entwickelt hat, klare Ziele verfolgt und machtbewusst ist, ist es für seine Ganzwerdung wichtig, zu lernen auf das eigene Herz zu hören. Für »Herzmenschen« ist es wesentlich, den eigenen Willen wahrzunehmen und zu schulen und sich manchmal kraftvoll Raum zu verschaffen. 

Sich selbst und andere als Gesamtheit, also als Mensch wahrnehmen zu können, bedeutet auch zu wissen, dass Menschen sich immer in Rollen begegnen. Diese Rollen spielerisch und transparent zu gestalten, das ist »echtes Menschsein« – und nicht so zu tun, als ob ich immer und überall der oder die Gleiche bin und als ob Rollen keine Rolle spielen.

Hier noch eine Wahrnehmung aus meiner Tätigkeit als Team-Supervisor unter anderem im Bildungs- und Sozialbereich und als Resilienz-Trainer: Ich empfinde es als schmerzhaft, mitzubekommen, wenn »große Herzen« durch Mangel-Strukturen »übernutzt« werden. Gerade in sozialen Berufen ist es ganz wichtig, gut auf sich selbst zu schauen und nicht, weil es einfach gebraucht wird, mehr zu geben, als einem oder einer gut tut. Denn dadurch werden strukturelle Mängel überdeckt – und es ist wichtig, dass diese zu Tage treten – nur so können sie verändert werden; und manchmal ist die Folge persönliche Frustration, die in Zynismus mündet: ein letztlich destruktiver »Schutzmechanismus«. 

Ver-rückendes – die Transformation unserer Kultur

Menschlicher, herzoffener, ganz sein wollen – das kann also auch in Enttäuschung und Überforderung münden. Findet Herzensbildung im ganz normalen Job keinen Platz?

Doch. Eigentlich führt sogar kein Weg daran vorbei! Jedenfalls dann nicht, wenn wir nicht die Verbindung zu uns selbst und damit die wichtigste, die eigentliche Orientierungshilfe verlieren wollen – und wenn wir als Menschheit den nächsten Schritt in unserer »kulturellen Evolution« schaffen wollen!

Es braucht ausreichend Reifungs- und Entwicklungsräume dafür. Mit den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, und am Besten auch mit Menschen außerhalb unseres beruflichen Feldes, aber mit Blick auf dieses Feld. 

Gemeinsame »Aus-Zeiten« mit unseren Kolleginnen und Kollegen bedeuten in diesem Fall nicht gemeinsam abzuschalten und mal was Anderes zu machen –  in diesen außeralltäglichen Zeiten schauen wir miteinander von einer anderen Position her auf den Alltag. Bildlich gesprochen: Wir steigen auf einen Berg – oder auch einen kleinen Hügel – und betrachten unseren Arbeitsalltag mit möglichst liebevoller Distanz. Das bedeutet nicht, die rosarote Brille aufzusetzen, sondern zu üben, von einer übergeordneten Ebene aus unseren Alltag zu betrachten. 

»Herzensbildung on the job«, wie ich sie verstehe, heißt also nicht, die Sprache des Herzens zu lernen und auf die Ratio zu vergessen, sondern die ausgegrenzten Gefühle und Wahrnehmungen einzuladen und zu einem größeren Bild zu gelangen – in Kommunikation mit anderen.

Es sind unsere Wahrnehmungsmuster und unsere tief verwurzelten Bilder von uns selbst und der Welt, die Wachstumsschritte behindern – das heißt aber auch, dass wir durch die »Wahrnehmung unserer Wahrnehmungsmuster« zu wirklicher Transformation und echtem Wachstum gelangen. Mit Wachstum ist hier nicht (nur) quantitatives Wachstum gemeint, sondern eben Herzensbildung als ganzheitliche Wahrnehmung: Sich selbst und andere in den Begrenztheiten und konkreten Begebenheiten sehen können UND sich selbst und andere in unserer Freiheit und Schönheit sehen können. 

Dabei geht es hier nicht immer um einen radikalen Shift, um den ganz anderen Blick, sondern um kleine und größere Ver-rückungen mit etwas Mut zur »Verrücktheit« (aus Sicht der bisherigen Normalität).

Sei es, dass ein Meeting mal mit einem gemeinsamen Schweigen beginnt und ein persönliches »Check-In« zur neuen Normalität gehört. Sei es, dass mensch sich und/oder dem Team eine »Auszeit« (zum Beispiel eine Teamklausur) oder regelmäßige Auszeiten (zum Beispiel Supervision) gönnt, die helfen, Perspektiven zu weiten – »Stellt euch vor, ihr blickt vom Ende eures Arbeitslebens auf die jetzige Situation zurück: was kommt da in den Blick, was mitten im Geschehen verborgen blieb?«.

Sei es, dass mensch sich und dem Team eine »wertschätzende Erkundung« gönnt, also den Blick dafür zu schulen, was jetzt schon gut läuft oder dass eine andere Praxis eingeführt wird, die dem Geist einer »Aus-Zeit« entspricht – auch damit es keine Burnouts braucht, um zu spüren, wann es zu viel ist!

Sei es – nun ganz von der Tiefe her gesprochen – dass einem, dass einer klar wird, wie sehr unsere Ur-Angst der Nicht-Zugehörigkeit, des Ausgeschlossen-Werdens unser Handeln und unsere Entscheidungen prägt – und die eigentlich klare Stimme unseres »das schmeckt mir, das schmeckt mir nicht; das tut mir gut, das fühlt sich übel an« überdeckt.

Bei aller Nüchternheit – es geht hier auch um poetische Bilder, die an die Seite von auf Funktionalität und Effizienz getrimmte Bilder treten. Es geht nicht um Kopf oder Herz, es geht um Kopf und Herz und Bauch und den ganzen Menschen. Das Herz muss im Beruflichen wieder Platz finden und ein Teil des Orchesters werden. Herzensbildung in diesem Sinne ist die Wiederentdeckung der Ganzheit und kleinteilige, oft mühsame Differenzierungsarbeit, die sich lohnt. Herzensbildung ist etwas, das Tag für Tag stattfindet – am Besten überall und am Besten besonders dort, wo es noch unüblich ist.