Nichtdirektivität ist eine Haltungsfrage

In einem Interview mit Theo Feldner, dem pädagogischen Leiter der Lernwerkstatt, spricht Maria Altmann-Haidegger über den radikalen Ansatz der Nichtdirektivität und die innere Membran. 

Theo! Das Herz der Lernwerkstatt! Es wird von dir beschrieben als ein Bild von drei Kreisen: die bedingungslose Liebe im ersten inneren Kreis, die Nichtdirektivität und der Respekt vor Lebensprozessen im zweiten Kreis und alles andere, was Schule ausmacht, im dritten Kreis. Welche Bedeutung hat hier die Nicht-direktivität genau?

Für mich ist die Nichtdirektivität der Teil der Pädagogik, der uns am meisten von den anderen Schulen unterscheidet.

Was kann unter Nichtdirektivität verstanden werden ?

Das Wort ist durch das Negativ definiert, durch das Gegenteil von Direktivität. 

Wie wir die Regelschule kennen – seit der Einführung der Schulpflicht von Maria Theresia und danach, und viel kommt ja auch aus dem preußischen Militärwesen, wie die Klassenzüge, die 50-Minuten-Einheiten  – das kommt aus der Zeit, wo man einfach Menschen gebraucht hat, die funktionieren. Darauf war das aufgebaut. Aber viel von dem System haben wir immer noch – und das sehen auch sehr viele kritisch. 

Aus Sicht der Neurobiologie, der Gehirnforschung, ist diese 50-Minuten-Einheit, das Nicht-Verbunden-Sein der einzelnen Gegenstände – zuerst kommt Deutsch, dann kommt Turnen, dann Geographie, dann kommt Geschichte – dass das alles, was ja zusammengehört, separiert wird, das ist nicht zielführend. Das ist ja, glaube ich, allgemein bewusst.

Das funktioniert halt, das Direktive! Da kann man von außen den Lehrplan erstellen und das bleibt auch ziemlich konstant.  Alles ist über Leistung definiert. Die guten Noten sind dann der Zugang zur höheren Bildung. Überall braucht man einen gewissen Notendurchschnitt, … 

Und im Moment ist es ja wieder ziemlich leistungsorientiert und auch gleichgeschaltet. Als ich studiert habe, war das noch viel freier, als es jetzt ist.

Dieses direktive System an sich, da merke ich nicht, dass es in der Politik ernsthaft in Frage gestellt wird. Es wird nur innerhalb des Systems reformiert – oder versucht, es zu reformieren. Und es ist überall direktiv!

Wird nur in der Lernwerkstatt nichtdirektiv gearbeitet?

Was ich sehr gut kenne seit 25 Jahren,  ist der Weg von Rebeca und Mauricio Wild, die sich zur Nichtdirektivität bekennen.  Sie sind die Begründer des „Pesta“, einer aktiven Schule in Ecuador, die für die Lernwerkstatt in vielem ja richtungsweisend ist. 

Gehört habe ich es noch von Summerhill und der Sudbury Valley School, dass sie nichtdirektiv arbeiten – aber da war ich selbst noch nicht. 

Der Malort von Arno Stern ist auch nichtdirektiv. Dort wird man nie eine Wand mit gleichen Bildern sehen, wie man es manchmal in Schulklassen sieht, sondern es wird gemalt, was von den Menschen von innen heraus kommt.

Aber sonst kenne ich nicht so viele nichtdirektive Systeme. Es ist auch wenig Vorstellung in der Gesellschaft da, wie so etwas funktionieren kann. Was man nicht erlebt hat oder auch nicht erzählt gekriegt hat, kann man sich auch nicht so leicht vorstellen. Es ist gar nicht im Bewusstsein, wie das gehen kann.

Ist es nicht auch ein radikaler Ansatz? 

Es ist ein radikaler Ansatz, aber auch der natürliche, menschliche, humanistische Zugang zu Bildung, dass man davon ausgeht, dass man das Kind nicht von außen mit etwas „befüllen“ muss, sondern dass der Mensch etwas mitbringt – also einen Zugang dazu hat, was er will – oder

dass ein Mensch etwas wollen kann von sich aus – auch wenn ihm das nicht bewusst ist. Dass es so etwas gibt wie einen inneren Bauplan.

Die Wilds vergleichen das immer mit einer Zelle – als Bild für diese Nichtdirektivität. Der Zellkern ist der Bauplan, da drinnen ist die Information – das ist eine Intelligenz oder das, was ich mir vorgenommen habe und dann gibt es die halbdurchlässige Membran, die das Innere schützt vor dem Chaos im Außen – es soll ja nicht alles ungefiltert hineingehen. Es ist ein Bild dafür, dass da ein Schutz ist, es wird ausgewählt, was hineingelassen wird. Es wird von innen gesteuert, was da hinein darf. 

Für mich ist das Innere der Zelle so ein heiliger Raum, wo kein anderer Zutritt hat – außer ich selber für meinen Raum. Und mir ist es total wichtig, diesen inneren Raum der Kinder oder auch Erwachsenen – und natürlich auch meinen eigenen – als etwas zu sehen, wo „Betreten verboten“ steht für andere – also nur ich wähle aus, wen ich da hineinlasse.

Direktivität ist nun, von außen da hineinzubohren und zu sagen, ich weiß, was gut für dich ist. Es soll so funktionieren, wie die anderen das wollen. Jetzt gar nicht aus Böswilligkeit oder so, sondern weil das systemimmanent ist von der Direktivität her.

Wie kann diese innere Membran geschützt werden?

Mauricio Wild hat gesagt, das Beste, um die innere Membran zu schützen, den inneren Raum zu stärken, ist, Entscheidungen zu treffen. Wenn Kinder von klein auf Entscheidungen treffen dürfen und bei uns auch müssen – das ist ja oft auch anstrengend – dann sind sie immer im Kontakt mit sich selbst. Weil sie sich fragen, was will ich eigentlich machen? Deshalb gibt es auch hier Kinder, denen langweilig ist. Da gehe ich dann nicht her und sage, schau, was es bei uns alles gibt. Sondern ich sage, ja, dir ist langweilig, da kann man halt nichts machen. Sie werden dann wieder was finden, was sie interessiert.

Das Bild von der Membran ist hier gut. Sie ist ein Schutz und auch eine Wachstumsmöglichkeit, wo ich entscheide, was ich mir hereinhole. Wenn ich mir was hereinhole, was mir nicht gut tut, spüre ich das auch. Diese Membran ist äußerst verletzbar. Und wenn ich die Grundnahrung der Liebe nicht kriege, die bedingungslose Wertschätzung nicht kriege, die ich aber brauche, dann werde ich natürlich alles tun, damit ich sie kriege. Mit Liebesentzug kann ich Menschen, vor allem Kinder, dazu bringen, das zu tun, was ich will. Das geht ganz schnell. Und es ist auch gang und gäbe, das zu tun.

Wie wird die Nichtdirektivität in der Lernwerkstatt praktisch umgesetzt?

Bei uns ist es so, dass die Initiative vom Kind ausgeht. Wenn es sich für etwas interessiert, gehe ich auch sehr individuell darauf ein. Und es wird sehr gefördert, was vom einzelnen Menschen herauskommt. Aber man kann nicht immer alle Interessen bedienen. Manchmal verweise ich dann auf ein Buch oder jemanden, der sich auf dem Gebiet, das das Kind gerade interessiert, gut auskennt. Oder ich beschaffe etwas zu dem Thema – oder es gibt ja auch Internet, da kann man dann ebenfalls schauen.

Besteht nicht die Gefahr, dass der begleitende Erwachsene aus Angst, in die innere Membran des Kindes einzudringen, dann gar nichts mehr tut? Oder dass der Erwachsene sich nicht traut, Grenzen zu setzen?

Für mich ist die Nichtdirektivität eine Haltungsfrage. Das muss man spüren, wann es gefährlich ist.  

Es muss auch nicht immer die Initiative vom Kind ausgehen, man kann durchaus auf ein Kind zugehen und auch mal einen Vorschlag machen, das muss es ja dann nicht machen – darum geht es ja beim nichtdirektiven Ansatz. Es ist nicht so, dass man gar nichts machen darf oder gar nichts sagen darf. 

In Mathematik ist es zum Beispiel so, dass ich dann oft mit Fragen arbeite. Oder ich setze einen Impuls, mache eine Materialpräsentation. Das muss man spüren, wo man dem Kind einen Erkenntnisschritt wegnimmt, den es selber machen kann.  Man soll mit dem Kind in Kontakt sein, man kann auch von etwas begeistert sein – ohne zu verlangen, dass meine Begeisterung ankommt. Wenn immer so der Anspruch ist, man soll die Kinder motivieren, da ist für mich der Hintergrund ein unlauterer.

Ich höre oft, die Lehrer sollen die Kinder motivieren. Aber das geht nicht. Ich kann nur selbst von etwas begeistert sein, dann spüren das die Kinder.

 Ich bin auch vom nichtdirektiven Ansatz begeistert und könnte auch nicht mehr anders arbeiten. Natürlich macht man sich oft Gedanken, wenn Kinder etwas verweigern. Da fragt man sich dann, was man machen könnte, ob man das überhaupt noch verantworten kann – auch vor den Eltern. Vorschläge zu machen ist erlaubt, aber man soll nicht ungefragt eingreifen, und ich vermittle nicht, dass ich weiß, wie es geht.

In unserer Gesellschaft glaubt man, man muss die Kontrolle haben, sonst wird es chaotisch. Aber wenn jemand mit seiner inneren Wahrheit verbunden ist, wird es nicht chaotisch. Chaotisch wird es, wenn ich eine Masse habe, die manipulierbar ist.

Gibt es die Nichtdirektivität auf mehreren Ebenen?

Es gibt die Nichtdirektivität auch auf ganz vielen Ebenen: auf intellektueller , psychischer, sensorischer, motorischer Ebene, …

Ich wohne in Wien und da sehe ich es ganz oft im Zoo, dass die Eltern sagen: „Schau, hast du das schon gesehen? Da schau!“ – Aber das Kind will vielleicht grad viel lieber mit dem Kies am Wegrand spielen. Da übernehmen die Eltern die Sensorik der Kinder. Anstatt dass das Kind sagt: „Da schau, der Löwe!“

Man kann auch ins Motorische eingreifen, dazu hat Emmi Pikler geforscht. Wenn man zum Beispiel Kinder dazu bringen will, zu einem früheren Zeitpunkt zu gehen, als das von ihrem inneren Bauplan vorgesehen ist.

Ist Nichtdirektivität eine Utopie?

Für mich ist diese nichtdirektive Schule keine Utopie, denn ich lebe ja in dieser Utopie. Ich weiß ja, dass es funktioniert . 

Wie siehst du die Zukunft der Lernwerkstatt?

Wir müssen in unsere Überlegungen für die Schule die momentanen Entwicklungen miteinbeziehen. Zum Beispiel müssen wir uns fragen, was bedeutet die Digitalisierung für unsere Schule. 

Davor kann man sich nicht verschließen. Hier gilt es auch Wege zu finden, das positiv zu gestalten. Zum Beispiel in Mathematik einmal von einer Materialpräsentation ein Video zu gestalten, wo dann die Kinder von den Begleitern unabhängig das Material kennenlernen können. Natürlich gibt es auch einen Lernbegleiter, der dabei ist, aber es wäre reizvoll, das mal auszuprobieren, es zumindest mal anzudiskutieren. Bei uns laufen ja immer viele Prozesse gleichzeitig:  eine Gruppe arbeitet mit dem goldenen Perlenmaterial, eine mit der Gleichung mit zwei Unbekannten, eine dividiert – das ist ganz individuell. Vielleicht können uns da die neuen Medien helfen, noch individueller auf die Kinder einzugehen.

Was wären noch weitere Utopien?

Eine Utopie wäre, dass Regelschulen die Ausnahmen sind. Es sollten Offensiven gestartet werden Richtung nichtdirektive Schulen. Dafür sollte es Geld geben, dass man Schulen bauen könnte – die Schule der Zukunft! Das könnte so eine Art Campus sein, mit einem großen Garten.

Eine Utopie wäre, dass technisches Wachstum einhergeht mit ethischem Wachstum. Dass man nicht alles tut, was geht. Dass man nicht für Profit alles macht. Sondern dass man die volle Verantwortung übernimmt für das, was man tut. Dass Technologie in Verbindung ist mit spirituellem Handeln. Wenn das nicht verbunden ist, ist es nur zerstörerisch. 

Die Menschen haben halt entdeckt, dass es Erdöl gibt und dass man das herausholen kann und dass das die Wirtschaft beflügelt. Und das blasen wir alles in die Luft. Und jetzt sind wir draufgekommen: das ist nicht gut. Es ist unübersehbar, was da passiert. Das macht mich betroffen. Dass der von Menschen gemachte CO2-Ausstoß reduziert werden muss, das ist sonnenklar.

Eine Utopie wäre auch das bedingungslose Grundeinkommen. Wo ich nicht der Bittsteller bin, sondern einen Betrag bekomme, mit dem ich halbwegs menschenwürdig leben kann.

Eine Utopie wäre eine Wirtschaft, deren Ziel es nicht mehr ist, zu wachsen. Dass man es schafft, aus dem quantitativen Wachstum herauszukommen – und das ist auch verbunden mit dem Geld – dass es dann auch richtig verteilt wird.