Die Geschichte der Kinder oder: Warum sich die Lernwerkstatt für die Geburt interessiert

Ein Interview von Sonia Höllerer mit Antonia Stängl.

Beim Aufnahmeprozess eines Schulanfängers in der Lernwerkstatt – und ich habe gehört, dies ist auch bei anderen ähnlich arbeitenden Schulen üblich – taucht die Frage nach der Geburt auf: Wie ist die Schwangerschaft verlaufen, wie war die Geburt, gab es Komplikationen, wie verliefen die ersten Wochen? Warum ist das so? Warum interessiert sich eine Schule für Informationen zur Geburt eines Kindes?

In der Lernwerkstatt und ähnlich arbeitenden Schulen gibt es ein Bewusstsein dafür, wie prägend die Schwangerschaft, die Geburt und die erste Zeit für ein Kind sind. Deswegen ist es im Sinne einer ganzheitlichen Wahrnehmung des Kindes mit all seinen Themen sehr wichtig, Informationen darüber zu erhalten, wie diese frühe Zeit verlaufen ist. Darüber hinaus geht es ja hierbei auch nicht nur um reine Fakten, denn auch daraus, wie die Eltern zum Beispiel über Ereignisse sprechen, kann man Hinweise bekommen, inwieweit sie eventuelle Komplikationen schon verarbeitet haben bzw. welche Themen noch immer Einfluss auf ihre Beziehung zu ihrem Kind haben.

Für die feinfühlige Begleitung von Kindern kann das Wissen um seine eventuellen „wunden Punkte“ elementar sein. Es macht für ein Kind einen großen Unterschied, wie umfassend es sich von einem Erwachsenen wahrgenommen fühlt. Gerade in emotional schwierigen Situationen schöpft das Kind Sicherheit und Vertrauen, wenn es „sozusagen weiß, dass der Erwachsene weiß“, auch wenn gar nicht darüber gesprochen wird.

Du sprichst das Verarbeiten von Komplikationen an. Wie kann das beispielsweise passieren?

Da muss ich etwas weiter ausholen. Die Lernwerkstatt basiert ja auf der Idee eines sich selbst regulierenden menschlichen Organismus (wenn man es genau nimmt, findet sich dieser Gedanke ja bereits in der Arbeit Maria Montessoris). Dieser Organismus ist immer bestrebt, sich auf die bestmögliche Weise zu entwickeln und dazu gehört eben auch das Verarbeiten von eventuellen ungeeigneten Erfahrungen. Eine Geburtskomplikation kann man als solche verstehen. Konkret bedeutet das, dass ein Kind sozusagen in aktuellen Situationen auf ähnliche Reize reagiert und sozusagen versucht, etwas, das aus dem Lot geraten ist, wieder in Ordnung zu bringen. Um dann als Erwachsener angemessen zu reagieren, braucht es eben das Wissen um das Thema, sowie das feinfühlige Reagieren in der Situation.

Ich erinnere mich an ein schönes Beispiel, das Rebeca Wild in einem ihrer frühen Bücher erzählt hat. Bei einem ihrer Söhne war die Geburt eingeleitet worden und als dieser dann viele Jahre später frühmorgens immer Schwierigkeiten hatte, aus dem Bett zu kommen, entschieden sie sich als Eltern, ihm den Raum zu geben, dieses Bedürfnis nach dem eigenen Tempo nachzuentfalten. Also setzten sie sich zu ihm ans Bett und unterstützten ihn darin, den Zeitpunkt zu finden, der sich für ihn richtig anfühlte … und das über einen Zeitraum von mehreren Wochen. Ob sie dann mit ihm auch darüber gesprochen haben, was bei seiner Geburt geschehen ist, daran kann ich mich jetzt nicht erinnern, ich würde es aber in einem solchen Kontext empfehlen – und ebenso würde ich die „Nachentfaltung“ auch für das Kind in diesen Zusammenhang stellen.

Ich frage jetzt einfach einmal provokant: Wird nicht manchmal zu viel in dieses Geburtsereignis hinein interpretiert? Beziehungsweise: Tendiert man nicht auch dazu, für alle möglichen Vorkommnisse die Verantwortung bei einem beispielweise schwierigen Geburtserlebnis zu suchen?

Ja, diese Frage kann ich gut nachvollziehen. Das könnte natürlich passieren, wenn man dann ständig nur mehr nach Zusammenhängen sucht, die sich auf die Geburt beziehen. Ich gehe das eher pragmatisch an. Wenn ein Kind Schwierigkeiten hat, dann versuche ich mit den Eltern zu ergründen, um welches Thema es denn gehen könnte. Die Schwangerschaft und Geburt sind nur eine Möglichkeit, es gibt ja auch noch viele andere. Ich verlasse mich da auf den Instinkt der Eltern, die wissen – zumindest auf meine Nachfrage hin – in der Regel eh, was gerade bei ihrem Kind in Resonanz geht, und wenn sie es nicht bewusst wissen, so kann ich dann doch an ihrer Reaktion ablesen, wohin die Energie geht.

Aber nochmal zurück zu Deiner Frage. Es geht ja hierbei nicht darum, die Verantwortung irgendwohin zu schieben – es geht vielmehr darum, die Versuche des Kindes zu erkennen, eine alte Wunde zu heilen und es dabei zu unterstützen. Umgekehrt gibt es nämlich ganz realistisch die Gefahr, Öl ins Feuer zu schütten und gerade das wieder zu verstärken, was eben ursächlich das Problem war – also beispielsweise weiter Druck zu machen, wenn doch gerade der Druck bei der Geburt dem Kind zu viel war.

Ist es entscheidend, Geburtserlebnisse mit dem Kind zu thematisieren?

Manchmal ja und manchmal nein. Gerade im Kontext der Schule würde ich sagen, dass ein Thematisieren eher die Ausnahme wäre. Da geht es eher darum, bestimmte Muster beim Kind zu erkennen und es dann gut zu begleiten, wenn es nach Lösungen sucht.

Aber auch zu Hause werde ich es nicht jedes Mal thematisieren, wenn ein Thema auftaucht, das ich  auf die Geburt beziehe. Aber dann, wenn ich so wie im obigen Beispiel plane, das Kind beim Verarbeiten aktiv zu unterstützen, ist das definitiv viel wirkungsvoller, wenn ich auch vorher mit dem Kind über den Zusammenhang spreche (in klaren, einfachen Worten und ohne das Geschehen zu dramatisieren – eben einfach als Information, damit das Kind das, was es fühlt, auch einem Ereignis zuordnen kann).

Dazu habe ich noch ein Beispiel mit einem Erwachsenen in einer Coachingsituation:

Es ging dabei um die Schwierigkeit, eine gute Studienwahl zu treffen und der junge Mann fühlte sich wie gelähmt – und dies schon über mehrere Monate hinweg. Irgendwann kam ich dann auf die Geburt zu sprechen, da sich mir die Assoziation aufdrängte. Es stellte sich heraus, dass er per Kaiserschnitt geboren worden war und da der zuständige Chirurg nicht ad hoc verfügbar sein konnte, ergab sich für Mutter und Kind eine Situation, in der es regelrecht gefährlich gewesen wäre, wenn sich die Geburt weiterbewegt hätte. Es war also tatsächlich überlebensnotwendig für ihn gewesen, erst einmal jede Aktivität einzufrieren. Es gelang uns dann, diese Erfahrung von der aktuellen Entscheidungssituation zu trennen. Dabei ging es vor allem darum, zu erkennen, dass dieses „Einfrieren“ damals sein Überleben gesichert hatte, aber im hier und jetzt keinen Sinn ergibt.

Ein schönes Beispiel! Ich frage allerdings dennoch nach: Mit Sicherheit können wir nicht sagen, ob diese Situation während der Geburt tatsächlich diese weitreichenden Folgen für das Leben des jungen Mannes hatte. Beweise dafür gibt es nicht. Dennoch: Es erscheint mir sinnvoll, wenn man anhand dieser elementaren Erfahrung Erkenntnisse für das jetzige Dilemma ziehen kann und damit einfach weiter an seinen relevanten Themen arbeiten kann – unabhängig davon, ob diese Rückschlüsse wirklich gerechtfertigt sind. Würdest Du dem so zustimmen?

Als Coach gehe ich das ganz pragmatisch an. Mir geht es ja, wie Du sagst, nicht darum, den Zusammenhang zu beweisen, sondern darum, in einer aktuell unbefriedigenden Situation zur Lösung beizutragen. Meine Vorgangsweise in der Praxis basiert also nicht auf Beweisen, sondern auf Wahrnehmung. Ich kann im Gespräch auf verschiedenen Ebenen wahrnehmen, ob mein Gegenüber in einem Problem gefangen ist oder sich auf eine Entspannung und Lösung zubewegt. Wenn ich also ein Thema als ursächlich annehme – wie in diesem Beispiel das Einfrieren kurz vor dem Kaiserschnitt – dann spreche ich darüber und folge dann weiter der Reaktion des Klienten. Es könnte also auch sein, dass ich ganz eindeutige Hinweise habe, dass das Geburtsereignis relevant ist, aber mein Gegenüber mir signalisiert, dass hier grad keine Lösung zu finden ist  – dann ist auch das zu respektieren. In Coachingsituationen mit Eltern bin ich also in einer doppelt kniffligen Situation: Es kann sein, dass die Signale der Mutter andere sind als die des Babys, da gilt es dann zusätzlich beide zu synchronisieren oder einfacher gesagt auch wieder in Verbindung zu bringen.

Ich finde es interessant, dass Du am Beginn erwähnt hast, dass es relevant ist, wie die Eltern über die Geburt sprechen. Es betont, dass das Geburtserlebnis – oder im schlimmsten Fall das Geburtstrauma – keinesfalls eine einseitige Angelegenheit ist. Wie können Eltern eine schwierige Geburt verarbeiten und welche Folgen hat es, wenn man sich diesen oft schmerzhaften Erinnerungen nicht stellt?

Wie schon erwähnt, ist das Geburtserlebnis eine gemeinsame Geschichte von Mutter und Kind (Väter sind manchmal mehr und manchmal weniger auch davon betroffen). Leidet also das Kind während der Geburt, so auch die Mutter und umgekehrt. Das Erzählen hat nur dann einen heilsamen Effekt, wenn es nicht immer wieder die Wunde aufreißt, sondern auch den Weg dafür öffnet, dass sie sich – nach und nach – bei allen Betroffenen schließen kann. Mein erster Rat an Eltern, wenn es um die Verarbeitung von Geburtstraumata geht, ist: sehr neutral über die Ereignisse zu sprechen. Es geht erst einmal darum, das Fühlen des Kindes (und das kann durchaus noch ein Säugling sein) mit einer Geschichte in Verbindung zu bringen. Das oben angesprochene Synchronisieren ist auch der Grund, warum ich in diesem Fall gerne die Mutter und das Kind gemeinsam begleite, denn das gibt mir die Möglichkeit, bei beiden wahrzunehmen, was es noch braucht, um das Geschehen zu integrieren und vor allem auch ihre Verbindung zu stärken – eines der größten Probleme nach einer schwierigen Geburt ist es ja, wenn das selbstverständliche Band von Mutter und Kind Risse bekommen hat.

Möchtest Du abschließend noch etwas anmerken?

Ja, ich möchte nochmal an den Anfang zurückkehren, zur Ursprungsfrage.

Wir können davon ausgehen, dass heutige Erfahrung immer auch aufgrund der eigenen Geschichte wirkt, dass das, was wir also bisher erlebt haben, direkt das beeinflusst, was wir heute erleben (es wirkt sozusagen wie eine Art Filter). Insofern sind also alle bemerkenswerten biografischen Elemente in einer Schule wie der LWS wichtig, nicht nur die Schwangerschaft oder Geburt. Diese beiden werden nur deshalb so betont und besonders nachgefragt, weil sie einerseits so früh in der Entwicklung stattfinden und andererseits die Geburt ein so besonders einschneidendes Erlebnis ist. Eine Geburt ist der Übergang von einer hoffentlich sehr geschützten Zeit im Mutterleib zum eigenständigen Leben auf dieser Erde. Bezogen auf unsere Autonomie gibt es keinen größeren Augenblick.

Nun kann man sich gut vorstellen, dass die Erfahrung, die hierbei gemacht wurde, gerade in anderen Übergangssituationen immer wieder auftaucht. Und nochmal – es geht nicht darum, Ausreden zu finden. Es geht darum, zu verstehen, warum passiert, was gerade passiert, und das Kind dabei zu unterstützen, wenn es neue Lösungen zu finden versucht. Tatsächlich kommt hierbei der Schule nur eine sehr untergeordnete Rolle zu. Insofern möchte ich alle Eltern ermutigen, die dort gesetzten Impulse aufzugreifen und sich selbst auch noch einmal mit der frühen Zeit ihrer Kinder zu beschäftigen, diese gemeinsam so gut wie möglich zu integrieren und gegebenenfalls auch Unterstützung zu suchen, wenn sie merken, dass der Einschnitt so groß war, dass sich die Themen nicht von selbst lösen lassen.

Danke für das Gespräch!

Gerne.