Der Freigeist der Adler

Im Frühling, wenn das Ende des Kindergartenjahres noch in weiter Ferne, aber doch schon sichtbar am Horizont ist, entsteht bei den Waldfexxxen eine neue Gruppe: Die Adler! Alle Kinder, die im kommenden Herbst in die Schule gehen werden, ziehen los, um die Weiten des Waldes zu erforschen. Ein Bericht von Marise Polatschek-Fries und Bowen Neuhofer.

Schon im Jänner und Februar war die Unruhe in der Gruppe zu spüren. „Wann ist Abgängertour?“ „Bekommen wir bald unsere Abgängerzeichen*?“ hört man immer wieder von den elf Kindern zwischen fünf und sieben Jahren, die nach dem Sommer nicht mehr bei uns im Wald sein werden. Mit jedem Grashalm der wächst, mit jeder Blüte die erwacht, steigt auch die Erwartung bei den Kindern: Wann geht es endlich los!? Und endlich ist er da, der heiß ersehnte Tag! Mit einem traditionell lauten Johlen verabschiedet sich die neu gebildete Abgängergruppe und es geht auf ins Abenteuer.

Bowen, der auch heuer wieder die Gruppe leitet, kennt ein paar Plätze, zu denen die Waldfexxxen bis jetzt noch nie gekommen sind und die er jetzt nach und nach aus dem Ärmel schüttelt. Doch bevor es losgeht, trifft sich die Gruppe zum morgendlichen Singkreis. Eine spezielle Stimmung liegt über den Kindern, es bedarf keiner Anleitung. Es wird gemeinsam gestampft, gesungen und gejohlt. Durch scheinbar unbewusste Bewegungen fängt jemand an, mit dem Fuß Laub in die Mitte zu schieben. Wie von selbst entsteht ein Adlerhorst, auf dem bald ein paar Kinder Platz nehmen und im Rollenspiel beginnen, ihre Adlereier (Bockerl) auszubrüten, während andere Kinder als Adler im Kreis um sie sind.

Durch die große Spannung, die große Vorfreude auf das Kommende, entsteht eine Gruppendynamik, die bei den Kindern (und auch bei den beiden Erwachsenen, die die Gruppe begleiten) weit über den Vormittag hinaus anhält. Mal als Adler, mal als Wölfe zieht die Gruppe gemeinsam durch den Wald.

Es werden Spuren gelesen, Berge bestiegen, Bäche überquert, es wird die Natur gelesen und verstanden. Inzwischen sind die Kinder so groß, dass es ihnen auch mal wichtig ist, eine Wegstrecke hinter sich zu bringen und ein Ziel zu erreichen. Sie sind bereit, Wissen zu sammeln. Genau werden Pflanzen angeschaut und bestimmt. Wie erkenne ich Giersch? Ist das wirklich alles Löwenzahn? Sobald die Pflanzen blühen, ist es einfacher, vorher muss jedes Blatt, jeder Stängelquerschnitt und jedes andere Merkmal einer Pflanze genau untersucht werden. So haben die Abgänger das Privileg, auch den Wald kosten zu dürfen. In allen anderen Gruppen dürfen generell keine gefunden Pflanzen gegessen werden – auch wenn die Kinder sie kennen. Bei den Adlern wird gekostet! Wie schmeckt rohe Brennnessel? Wer traut sich da einfach abbeißen? Irina kennt einen Trick, das Blatt zu falten, um es zu essen. Bowen reibt die Nesseln herunter. Und die Kinder stecken sich die Blätter auch mal einfach so in den Mund. Wichtig ist bei den Kindern, dass sie nur essen dürfen, was aus der Hand eines Erwachsenen kommt. Die Verwechslungsgefahr der Pflanzen ist zu groß. Und so wird gemeinsam Gefundenes bestimmt, untersucht und schlussendlich auch gekostet. Löwenzahn, Kletten-Labkraut, Lungenkraut, Sauerklee, Veilchen, die Blätter von Linde, Hainbuche und Rotbuche – die Vielfalt des Waldes ist schon im Frühling riesig und erweitert sich mit jeder Woche, in der die Natur weiter sprießt.

Mit dem Fortlauf des Frühlings spüren die Kinder auch, dass es bald Zeit wird, ihr Lager zu richten, in dem sie dann im Sommer ihre gemeinsame Tipinacht (das Abschlussritual der Adler, eine ganze Nacht mit den BegleiterInnen im Wald) verbringen werden. Gemeinsam wird an dem Haselnussdom gewerkt. Es gibt das Bedürfnis, ein neues Heim zu schaffen, das von der Gruppe selbst gebaut/renoviert wird. Ein Heim, das dann wirklich ihres ist! Stangen müssen ersetzt werden, die ganze Grundkonstruktion ist schon am Wackeln. Und so ziehen die Adler los! Diesmal haben sie das Ziel, lange gerade Haselnussstangen zu finden, mit denen sie ihren Dom wieder auf Vordermann bringen können. Die vielen Waldfexxx-Jahre, in denen die Kinder Erfahrungen sammeln durften, tragen Früchte: die Kinder wissen genau, wo sie die gesuchten Stangen finden können, sie sind geübt im Sägen, sie überlegen, bevor sie einen Ast abschneiden, ob sie diesen auch wirklich verwenden können und wollen. Und dann wird geschleppt und gezogen: Lange Äste quer durch den Wald, gemeinsam, alleine, und alle zu einem Ziel: auf der Tipiwiese steht der Dom, der nun gemeinsam repariert wird.

Schon Wochen im Voraus werden Schlafplätze diskutiert, die Tipinacht wird zwischen den Kindern immer wieder Thema. Es gibt eine große Spannung! Immer wieder gibt es Kinder, die sich nicht sicher sind, ob sie sich die Nacht ohne Mama und Papa im Wald zutrauen, und doch sind immer wieder alle Kinder bis zum nächsten Tag geblieben und sind dann am folgenden Tag nach dem Abschlussritual, bei dem die Kinder nach einer Kletter-, Grab-, Hüpf- und Karottenessprüfung im Kreis aller Waldfexxxen verabschiedet werden, (gefühlte) zwei Köpfe größer wieder nach Hause gegangen.
Doch jetzt im Mai sind noch zwei Monate Zeit, bis es wieder so weit ist, zwei Monate, in denen die Kinder noch jeden Tag im Wald nutzen, um Neues zu erleben und um Altes wieder aufleben zu lassen und zu festigen. Mit den Eichenblättern, die wachsen, kommen auch die Raupen zum Vorschein. Die Kinder wissen genau, dass sich in den eingerollten Blättern Raupen verstecken. Die Raupen werden gesammelt und bewundert. Es werden ihnen Lager gebaut, um sie möglichst lange beobachten zu können.

Jeder Regentag wird genutzt, um im Bach nach Krebsen zu fischen. Bei den `Adlern´ trauen sich viele Kinder schon, die Krebse in die Hand zu nehmen. Sie sammeln sie in ihren Jausenboxen, beobachten sie und lassen sie am Ende des Waldvormittages wieder in den Bach gleiten.

An warmen Tagen lassen sich die Äskulapnattern bei der Schlangenmauer beobachten und hinterlassen den Kindern jede Menge Schlangenhaut, die wie eine Trophäe mit nach Hause genommen wird. Nochmal genießen die Adler einen Tag beim Tipi, einem Platz, der meistens von den jüngsten Kindern in Anspruch genommen wird. Je älter die Kinder, desto größer werden die Projekte am Erdhügel, desto kürzer wird der Vormittag.

Dann gibt es wieder ein neues Projekt: das Waldmuseum, in dem gefundene Schätze wie Knochen, Vogeleier, tote Käfer, Rehgeweihe oder Schlangenhaut für alle Kinder zum Angreifen da ist, übersiedelt vom Tipi in den alten Jägerstand, der nun seinen Platz am Boden gefunden hat.

Jeden Tag ist der Vormittag reich an Erlebnissen, reich an Natur und reich an sozialen Erfahrungen.