„Phantasie zulassen bedeutet auch, Mut zum Scheitern zu haben!“

Die schallundrauch agency schwärmt von großen Dingen, überrascht mit kleinen Details, denkt große Gedanken und manchmal geht die Phantasie mit ihr durch. Ein Interview von Johanna Kienzl mit der Tanzpädagogin Gabriele Wappel.


Liebe Gabi, was kommt dir in den Sinn, wenn du den Begriff Phantasie hörst und an deine Arbeit denkst?

Wir bei der schallundrauch agency erfinden ja unsere Stücke selbst im Probenprozess und erarbeiten sie durch Improvisation aus uns heraus. Ohne Phantasie würde es einfach nicht funktionieren. Sie ist das Mark unserer Arbeit, wir leben von unserer Phantasie auf gewisse Art und Weise. Aus unserer  und der Phantasie der PerformerInnen und aller, die am Prozess beteiligt sind.

Gibt’s für dich eine klare Grenze – hier ist die Phantasie und hier beginnt die Realität?

(lacht!) Naja, manchmal gibt’s die schon. Man kann sich ja vorstellen, was man gern am Konto hätte, und die Realität ist eine andere. Es gibt ja auch immer die physische Realität, die ist zwar auch subjektiv, aber es gibt schon so gemeinsame Nenner wie bestimmbare und messbare Dinge.
Insofern gibt es also schon eine Grenze. Auf der anderen Seite aber bestimmt die Art, wie wir denken auch, wie wir die Realität wahrnehmen und insofern ist diese Grenze auch wieder sehr verschwimmend. Man kann ja auf dieselbe Realität ganz unterschiedlich reagieren. 

Ich finde es immer interessant darüber nachzudenken, wie viel Realität in der Phantasie und wie viel Phantasie in der Realität steckt. Im Tanz ist es für mich das Schöne, dass man seine Phantasien ja Realität werden lässt in dem Moment, wo man improvisiert und sich einlässt auf Bewegung, Ideen und Vorstellungen und sie somit auch tatsächlich erlebt. 

In dem Moment, wo ich performe, auf der Bühne stehe, vergesse ich alles. Vergesse ich auch körperliche Bedürfnisse, da hab ich keinen Hunger, muss nicht aufs Klo oder überleg auch nicht, ob ich den Herd abgedreht hab. Diese Erfahrung ist sehr erfüllend, weil der Moment einen erfüllt und man mit den Gedanken nicht woanders ist.
Das ist ja dann sehr real alles, auch wenn es aus der Phantasie entstanden ist. Meistens ist bei unseren Stücken am Ende alles festgelegt. Letztes Jahr haben wir zum ersten Mal in einer Produktion improvisiert. Da war dann nur ein spartanischer, zeitlicher Rahmen vorgegeben. Es kann alles passieren und auch alles in die Hose gehen.

Wenn ich improvisiere, habe ich wirklich sehr wenige störende Gedanken. Viel schneller als z. B. beim Meditieren, da dauert es immer, bis meine Gedanken verstummen.  Beim Tanzen geht es viel leichter!  

Es gab lange die Meinung, die Phantasie ist was für die Kindheit und vielleicht noch für KünstlerInnen, aber dann wird man erwachsen und lässt die Phantasie hinter sich. Wir wissen mittlerweile, dass es so nicht ist, aber was fällt dir dazu ein?

Dieser Gedanke hängt damit zusammen, dass die Phantasie sehr verniedlicht wird. Oft wurde sie dargestellt als Elfe, die übers Feld fliegt, aber eigentlich ist es ja unsere Vorstellungskraft. Wenn man es als Kraft ausdrückt, hat es schon eine andere Gewichtung. Man braucht die Phantasie für so vieles, ich versteh nicht, warum sie so einen schlechten Ruf hat. Die Vorstellungskraft hilft einem ja beim Problemlösen, beim Erfinden, überhaupt auf irgendwas draufzukommen, was es noch nicht gibt. Auch die Technik braucht Vorstellungskraft. Es geht in unserem Leben ja gar nicht ohne sie.

Wie viel Phantasie braucht euer Publikum?

Ein bisschen? Ich würde mal so sagen: Das Publikum hat Interpretationsspielraum. Dadurch, dass wir keine reale Geschichte erzählen, ist es keine klassische Handlung wie im Theater. Den eindeutigen Handlungsstrang gibt es nicht. Es gibt abstrakte Szenen, die einen Deutungsspielraum geben. Das  merkt man auch in den Publikumsgesprächen, nachdem die Kinder und Jugendlichen unsere Stücke gesehen haben.  Dann fragen sie auch schon: „Wie habt ihr das gemeint?“  Wenn wir dann nachfragen: „Was habt ihr denn gesehen?“, dann kommen immer spannende Sachen. 

Es ist eher eine Art, dass man gewohnt ist, es gibt „eine richtige Lösung“ und dieses Prinzip brechen wir auf, denn es gibt viele Bedeutungen, die im Auge des Betrachters liegen. Es gibt eine Freiheit, mit der man auch umgehen muss! Das erstaunt das Publikum oft, dass alle recht haben mit ihren Interpretationen!

Das war es immer, was mich am Tanz interessiert hat. Die eigene Vorstellungskraft hat viel Platz, wenn man Tanz anschaut.

Wenn ich eine Performance verfolge, dann möchte ich etwas sehen, was meine Phantasie anregt. Was mich zu neuen Ideen bringt.
Ich möchte nicht die Welt erklären. Wir erzählen natürlich viel, auch viel aus unserem Leben. Es gibt ja auch in jedem Leben Dinge, die alle betreffen, menschliche Grundsituationen.
Ich liebe aber den abstrakten Tanz; wenn ich dem Publikum direkt was erzählen will, dann mach ich das, dann sag ich, was ich zu sagen hab und tanze, was zu tanzen ist.

Und hast du da auch das Gefühl, dass da unterschiedlich viel Platz für Phantasie ist, je nachdem, welchen Kanal du verwendest? Im Tanz etwas so deutlich zu sagen, ist schwierig, da ist es mehr ein Vorschlag, ein Impuls, aber es liegt noch vielmehr im Anderen, was ankommt.

Das stimmt, da kann ich dir nur recht geben. Was ich glaube, es geht ja nicht immer nur um eine Meinung, dann könnt ich auch einen Artikel schreiben. Das wär dann meine Meinung und die könnte man lesen. Es geht auch um die Vielstimmigkeit – wenn wir drei PerformerInnen sind, dann  haben wir schon drei Meinungen. Wie erleben TänzerInnen und Publikum das? Im Tanz transportiert sich was anderes, da geht‘s nicht nur um Kognitives, da sind andere Ebenen dabei. Aber auch wenn man spricht, ist man als ganzer Mensch auf der Bühne präsent, und es erzählt der Körper immer etwas über das Gesprochene hinaus. Der Körper hat anderes zu erzählen! 

Wie ist es so für dich mit Phantasie  und Wahrheit – es wird ja auch oft gesagt: „Das ist nur deine Phantasie“. Ist es denn „nur“ eine Phantasie?

Jemand hat einmal gesagt:  „Wissen muss man, was man sich wünscht – weil das real wird.“ Wenn ich mir nicht Gedanken mache, dann wird’s auch nicht passieren. Und tatsächlich beeinflussen ja unsere Gedanken uns auch körperlich. Es ist ja nicht egal, was ich mir denke. Genauso andersrum! Was man denkt, verändert sehr stark die Welt, und auch welche Phantasie man von der Welt hat, >> verändert sie. Unser Wahrheitsgedanke hängt mit unserer Wahrnehmung zusammen und die ist ja sehr beschränkt. Was ich als Realität wahrnehme, ist ja nur ein Auszug aus dem, was da ist, und für mich ist klar, dass ich dem auch mit meiner Phantasie noch etwas hinzufüge.

Einerseits heißt es, „nur die Phantasie“, und auf der anderen Seite gibt es eine große Angst vor denen, die „zu viel Phantasie“ haben.

Die Vorstellungsgabe gibt einem eine gewisse Ermächtigung, wenn man selber weiß, dass man lügen kann, und man kann sich vorstellen, dass wer anderer lügt.  Das geht ja sehr weit, man muss beim Einkauf erkennen, ob es eine Mogelpackung ist, wem glaub ich in der Politik oder im Internet. Wichtig, das zu unterscheiden. Und daher ist es auch wichtig, die eigene Phantasie zu kennen. Nur dann kann ich mir ja vorstellen, dass sich jemand anderer was ausdenkt.
Die größte Angst ist vielleicht, dass durch die Phantasie was in Frage gestellt wird, was man versucht zu verteidigen, z. B. Wertesysteme, Lebensweisen etc. Dass man sich dann selber fürs eigene Leben fragen müsste, ob das eigentlich passt! Das ist nicht angenehm!

Könnte die Phantasie jemandem eine Alternative zeigen zur Realität?

Ich seh die Phantasie nicht als Flucht vor der Realität. Es geht nicht drum, sich mit der Phantasie eine Parallelwelt zu schaffen, sie kann einem einfach Lösungen bieten dafür, wie wir mit der Realität umgehen können. Sie hat einen ganz ökonomischen Nutzen. 

Wie arbeitest du als Tanzpädagogin?
Diese vielen Zustände, die man erleben kann, wenn man improvisiert, weil man sich in irgendwas hineinversetzt und eine Bewegungsqualität entsteht und sie ja dann auch eine Zeitlang in einer Probe durchlebt, erscheinen mir sehr wichtig. Wird das immer so gesehen oder begegnen dir auch abwertende Beurteilungen im Sinne von  „Naja, dann tanzen sie halt ein bisschen!“?

Ich arbeite sehr projektbezogen und wenig im regelmäßigen Unterricht. Viel mit Kindern und Jugendlichen in Hinblick auf eine Präsentation. 


Improvisieren, das Erleben, ist so wichtig. Den eigenen Körper wahrzunehmen, als Geschenk, ist eine grundlegende Information für uns. Es macht ja immer was mit mir, auch wenn ich es nicht wahrnehme. Nicht nur mit meinem Bewegungsapparat, sondern meinem ganzen System. Und wenn ich aus den Mustern rausgehe und lerne,  sie zu erweitern. Das tut man ja in der Improvisation – auch, selbst wenn man Bewegungen kopiert, ist es in vielerlei Hinsicht für junge Menschen eine wichtige Information und hat neben dem künstlerischen Ausdruck auch gesundheitliche Aspekte. Psychisch, sexuell und was einem angenehm ist und was unangenehm. Diese Information braucht man täglich, und das dann abzuwerten mit „Es ist nix“, ist arg. 

Wir sind immer so stolz auf das Bewusstsein, und das erhebt uns über andere Lebewesen,  dann ist es vielleicht einfach Scheu, in das „nur Bewegen“ zu gehen, da das ja allem Leben zugrunde liegt. Ich weiß es nicht – aber so kann ich es mir vorstellen. Ich glaube, dass meine Gedanken enden, wenn mein Herz aufhört zu schlagen. 

Ich arbeite wie gesagt viel projektbezogen mit den Jugendlichen und am Ende gibt’s oft ein Showing. Die Jugendlichen haben zu Beginn häufig die Sorge „Ich hab ja keine Phantasie“, aber sobald wir anfangen, ist immer ganz schnell ganz viel da! Das ist oft ein schönes Erfolgserlebnis für die Kinder und Jugendlichen. Sie werden gesehen und gehört und sie haben es selbst erfunden! Ich hab sie nur beraten – das ist sehr schön.


Das relativiert oft diese „nur tanzen“-Meinung. Meistens erleben die Jugendlichen dann, dass die Umwelt Respekt vor der Leistung hat!  Und dass es auch gesehen wird, dass man so viel dafür getan hat, dass die Phantasie in die Wirklichkeit kommt – das lieb ich an meiner Arbeit!

Was macht man, wenn die Phantasie nicht kommt?

Mir geht es auch oft so (– was werde ich machen? –) in der Probe, und dann kommt doch was! Aber das Vertrauen ist nicht leicht. Mittlerweile kenn ich die Zweifel schon, wie soll es nur ein Stück werden, aber dann erinnere ich mich auch, dass es schon einmal so war und trotzdem funktioniert hat. 
Manchmal kommt die Phantasie auch nicht, dann putz ich die Küche und warte. Und am Ende hab ich meistens einen Pressetext und eine saubere Küche.

Und da sind wir wieder am Anfang, dass die Phantasie dein Werkzeug ist?

Ja, die Phantasie und schon auch Fertigkeiten. Denn es gilt ja, sie umzusetzen, sonst bleibt es ja nur in Gedanken. Die Phantasie kultivieren, pflegen und ein Handwerk entwickeln für die eigene Phantasie!
Je mehr man auch kann, desto mehr kann man auch ausprobieren. Mit den Fertigkeiten wächst das Vokabular, das ist ja in allem so!