Die Magie der fantastischen Geschichten

Ich schreibe diesen Artikel einerseits aus Sicht einer Psychotherapeutin, die jahrelang mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit dem Einsatz von Fantasie/Fantasy und ihrem Heilungspotential therapeutische Erfahrung sammeln durfte. Und andererseits aus der Sicht einer Fantasyautorin, die selbst sehr gerne in diesem Genre schreibt und liest. Von Luise Muschailov.

Um das Gebiet einzugrenzen, von dem ich spreche, hier eine kurze Definition von Fantasy: Fantasy ist der Bereich der Literatur und anderer moderner Unterhaltungsmedien, in denen (wie in Mythen, Märchen und Sagen) das Fantastische, Magisch-Geheimnisvolle mit Zauber und Magie in Traumwelten voller Fabelwesen heraufbeschworen wird.

Aus pädagogisch-psychologischer Sicht wurden Tagträumerei oder Beschäftigung mit Fantasy lange Zeit als eine bedenkliche Form des Eskapismus – der Flucht aus der Realität – betrachtet. Es war eine nicht wünschenswerte Beschäftigung und stand unter dem dringlichen Verdacht, Risiken für die seelische Entwicklung zu bergen.

Fantasie als menschliches Entwicklungspotential

Dank neuerer Erkenntnisse ist inzwischen das Gegenteil bekannt: Die Bedeutung der Fantasie für die seelische Entwicklung wurde erkannt und inzwischen werden bewusst fantasieanregende Methoden in Therapie und Pädagogik eingesetzt.

Der Fantasiefreund, den kleine Kinder oft in einem bestimmten Alter imaginieren, war früher ein Zeichen von beginnender Geisteskrankheit. Heute wird es als das gesehen, was es ist: Ein kreativer Akt, sich mit der Welt und der eigenen Person auseinander zusetzen. Denn im schlimmsten Fall war es nicht das Kind, das die Vase zerbrochen hat, sondern der sprechende Tiger. Ja, und den gibt es wirklich, liebe Eltern! 

Um Fantasy besser verstehen zu können, betrachte ich die Idee als grundlegend, dass Geschichten immer reale Phänomene reflektieren. Nicht umsonst ist Harry Potter ein so berühmtes Jugendbuch: Intuitiv wissen Kinder und Jugendliche, dass sie all das haben können, was Harry Potter hat: Nämlich ganz normale Superkräfte, die nur sie selbst in sich entdecken können. (Allerdings unter großen Mühen, aber DIESER Teil wird gerne überlesen.) Eine so beliebte Geschichte hat das Wichtigste richtig gemacht: Sie bietet die Möglichkeit, auf vergnügliche und entspannte Weise über die Welt und sich selbst zu lernen.

Terry Pratchett – ein Meister der Fantasyerzählung – betrachtet gelungene Fantasygeschichten als einen wesentlichen Weg, um gut in der Realität anzukommen und sich in ihr zurecht zu finden.

Heilung durch Fantasy

In der Traumatherapie habe ich das immer wieder auf beeindruckende Art und Weise erleben dürfen: Lässt man dem Kind seine Fantasien in Form von gespielten Geschichten (und das darf dann ruhig Godzilla oder Barbie sein – die Wahl trifft das Kind) ausleben, wird der Heilungsprozess vom Kind selbst erzählt. Der Bogen vom Problem – dem Bösen – zu einer Lösung – dem Guten – wird selbst gezogen.

Die Neuschöpfung von inneren Bildern als wesentliche Bewältigungsmöglichkeit wurde inzwischen auch von der Gehirnforschung belegt (siehe zum Beispiel Gerald Hüthers Buch „Die Macht der inneren Bilder“). Fantasygeschichten können also immer als Anregung verstanden werden, sich mit seinem eigenen Schicksal und einer Lösung zu beschäftigen. Das ist mitunter ein Grund, warum die meisten Romane dieses Genres mit einem Happy End enden: Die Geschichte hört an einem Punkt auf, wo der größtmögliche Veränderungsimpuls gegeben ist. >>

Fantasy als archetypische Erzählung

Fantasygeschichten verlaufen oftmals entlang der Erzählstruktur der „Heldenreise“, die auch schon seit langen Zeiten in Naturvölkern eine Erzähltradition hat. Der Held durchläuft ein bestimmtes Muster der Krisenbewältigung, bevor er zur Lösung kommt. Eine innere und äußere Bewegung vom Opfer zum Ermächtigten erfolgt und gibt dabei subtile Hinweise auf mögliche Bewältigungsstrategien.

Warum Fantasy besonders geeignet dafür ist, diese heilsamen inneren Bilder zu erzeugen, liegt meines Erachtens an folgenden Eigenschaften: 

Die handelnden Figuren besitzen meist einen hohen Grad an Wiedererkennbarkeit und Allgemeinheit. Von daher gibt es einen großen Raum für eigene Assoziationen. Das heißt, fast jeder kann sich schnell in diese Figuren hineinleben und findet sich darin wieder. Ein Vampirjäger, der schwarz gekleidet ist, suggeriert schon alleine durch die Kleiderfarbwahl eine Stimmung, die Raum für eigene Assoziationen lässt. Schwarz kann für den einen bedrohlich und düster sein, für den anderen ein Symbol von Stärke. (Und nein, es hat nichts mit dem Blut zu tun, das auf Weiß unappetitlich aussehen würde.)

Auch der Verlauf der Geschichte enthält eine hohe Dichte an typisch menschlichen Verhaltensmustern, wie zum Beispiel der Tanz um die unerfüllte Liebe oder gar die gefährliche Liebe, die Flucht oder der Kampf mit etwas Mächtigem oder die Befreiung aus einer Abhängigkeit.

Man spricht hier von Archetypen – oder abwertend – von Klischees, die gerade durch ihre Verallgemeinerung dazu führen, dass sich der Leser besonders gemeint fühlt. Ich bin als Autorin schon öfters darauf angesprochen worden, ob ich diese oder jene Person beim Schreiben im Sinn gehabt hätte. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Ich versuche, mich genau davor zu schützen, weil ich sonst nicht frei dafür wäre, die Fantasyfigur „flächig“, d.h. sehr allgemein, zu entwickeln. Dem Fantasyautor muss dabei das Kunststück gelingen, Klischees so zu verwenden, dass diese für den Leser geeignete Projektionsflächen bieten, ohne dabei zu langweilen. Ein flauschig freundliches Einhorn ist dem Leser nur zumutbar, wenn es am Tourette-Syndrom leidet.

Fantasy als Assoziationsmotor

Diese Flächenhaftigkeit der Charaktere widerspiegelt sich auch in der Sprache. Diese ist eher mit dürftigen Beschreibungen ausgestattet und knapp im Ausdruck und überlässt so dem Leser den Raum für seine Fantasie. Fantasieanregend ist natürlich auch die Welt der Metaphern, die aus der Weltenkreation, den außerirdischen Figuren und der überraschenden Handlung schöpft. Die Verwendung von Symbolen eröffnet einen gewaltigen Assoziationsraum und es kann dabei auf jeder Sinnesebene angesprochen werden. 

Ein berühmtes, klischeehaftes Beispiel ist das Fliegen. Die Vorstellung, fliegen zu können, ist für viele Menschen eine beglückende Fantasie. Und wer kennt nicht die fliegenden Autos der Kleinkinder?

Dazu fand ich ein Experiment interessant, in dem eine Gruppe von Fantasyfans und Nicht-Fantasyfans  die Aufgabe erhielt, sich vorzustellen, auf eine Lichtquelle zuzugehen. Und danach, auf diese zuzufliegen. Nach Messungen der ausgeschütteten Glückshormone war für beide Gruppen die Vorstellung zu fliegen die beglückendere. Was uns das jetzt für das reale Leben sagt, lieber Leser, muss jeder für sich selbst herausfinden. Ich übernehme da keine Verantwortung.

Die Moral von der Fantasygeschichte

Intellektuelle und moralische Botschaften haben für mich besonders in der Jugendliteratur nichts zu suchen. Sie entmündigen den Leser, weil sie nicht den Assoziationsraum gewährleisten, in dem jeder seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Etwas Wichtiges in Metaphern zu verpacken und dann zur Interpretation frei zu geben, scheint mir da das förderlichere Vorgehen. Das gelingt am besten, wenn man einfach nur eine neutrale Wahrnehmung der Geschichte teilt.

Im Vordergrund von guten Fantasyromanen steht also das „sich selbst erfinden“ im Gegensatz zu direkten pädagogisch-psychologischen Vorgaben.

Ein Beispiel dafür wäre das Thema Rassismus. Kein Rassist wird wohl durch die direkte Mitteilung, dass Rassismus etwas moralisch Verwerfliches sei, zum Umdenken gebracht werden. Andererseits ist Fantasy wie geschaffen dafür, kulturelle Toleranz und Resistenz gegenüber Rassismus zu entwickeln. Das Fremde, Andersartige ist oftmals anfangs bedrohlich und wird als das Böse beschrieben, beim langsamen Kennenlernen entpuppt es sich als Freund, selbst wenn es Tentakeln und Mundgeruch hat. (Manchmal wird dabei ein Unschuldiger gefressen, aber das kann ja mal jedem passieren.)

Fantasy spielt – so wie der Humor – mit dem Überraschenden und kreiert dadurch sogenannte Alltagstrancen, die notwendig sind, um neue Lösungswege zu imaginieren. Von daher nutze ich den hier entstandenen Trancezustand und verabschiede mich mit dieser moralisch-direktiven Botschaft:

Töte endlich das Monster unter deinem Bett und sei dein eigener Held, verdammt noch mal!