Die Rolle der Erwachsenen in der Lernwerkstatt

Maria Pöcksteiner, insgesamt 29 Jahre in der Lernwerkstatt in verschiedenen Rollen, zuerst als Mama und Mitbegründerin und dann 26 Jahre in der Schule als Begleiterin und davor drei Jahre in der Spielwerkstatt. Ein Interview zum Abschied, von Maria Altmann-Haidegger.

Was sind die größten Veränderungen seit dem Beginn der Lernwerkstatt, die du wahrnimmst?

Für mich persönlich ist es so, dass sich alles, was ich gehört oder gelesen habe in der Theorie – zum Beispiel von Rebeca und Mauricio Wild, die in Ecuador eine ähnliche Einrichtung aufgebaut haben oder Maria Montessori – das hat sich mehr mit der eigenen Erfahrung verbunden  und ich stehe jetzt natürlich ganz woanders als vor 30 Jahren. Der Fokus war früher auf der vorbereiteten Umgebung, den Regeln und Grenzen und die Kinder machen zu lassen. Und in der Rolle als Begleiter übten wir uns in Zurückhaltung. Um das mal so plakativ auszudrücken.

Das war damals eine ganz neue Herausforderung für die Erwachsenen, denn man sollte ja die Kinder nicht irgendwie dirigieren oder anleiten oder irgendwo hinbringen oder manipulieren, dass sie etwas machen oder sie loben oder was auch immer wir unter dieser Direktivität verstanden haben. Dadurch standen wir vor einer ganz neuen Aufgabe, von der keiner gewusst hat, wie das wirklich sein wird und geht.

 Wir haben es einfach probiert. Und das schätze ich sehr, dass wir uns das getraut haben – einfach mal nichts zu tun und zu schauen, was die Kinder eigentlich machen in einer freien, nicht angeleiteten Umgebung. Daran haben wir uns orientiert.

In den allerersten Jahren waren wir sehr vorsichtig und wollten beobachten, was die Kinder wirklich interessiert, die würden dann ihre Entwicklungsprozesse schon machen. Die Kinder haben oft  ganz anderes getan, als wir  dachten oder uns vorstellten. Sie waren ganz viel und lang mit Spielen beschäftigt, in der Bewegung, im Werkeln, in sozialen Prozessen und das ist ja noch immer so.

Natürlich hatten wir auch eine Idee, wie ein Begleiter – damals nannten wir uns noch Betreuer – zu sein hat, nämlich in der Zurückhaltung und auf die Einhaltung der Regeln zu achten.

Aber wir haben uns wenig damit beschäftigt, welche Bedeutung die Beziehung zu den Kindern hat. In Bezug darauf waren wir äußerst vorsichtig – um die Kinder nicht irgendwie zu beeinflussen oder zu lenken , Abhängigkeiten zu schaffen. Es war uns sehr wichtig, den Kindern ein Regelwerk zu geben, dass sich alle wohlfühlen können – dazu braucht es einfach Grundregeln und auch andere Regeln, die die Kinder aus dem Alltag mit uns entwickelt haben.

Aber was es wirklich heißt, Begleiter zu sein – als Person – das musste sich erst entwickeln. Je länger ich nun dabei bin, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass das etwas sehr Wesentliches ist. Dass die Erwachsenen eine ganz wichtige Rolle spielen, haben wir schon von den Wilds und der Montessori-Pädagogik gewusst – zur vorbereiteten Umgebung gehört ein Erwachsener. Wir sind auch ein Struktur gebendes Element. Ohne Erwachsenen wird die vorbereitete Umgebung unentspannt. Es braucht die Begleiter, die in den Bereichen sind, damit die Kinder Sicherheit und Orientierung erleben können. Diese, von den Erwachsenen ausgehende  Sicherheit, finde ich so wichtig in der heutigen Zeit – möglicherweise hat sich da auch etwas verändert – die brauchen Kinder mehr in einer sich schnell wandelnden Welt, damit sie sich wohl fühlen und ihren Weg gehen können.

Wie können Kinder zu dieser Sicherheit kommen?

Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit dem Begriff der „Neuen Autorität“ von Haim Omer beschäftigt und damit, was es heißt, als Erwachsener präsent und spürbar zu sein. Haim Omer meint , dass dadurch, dass wir alle nicht mehr autoritär im alten hierarchischen  Sinn sein wollen, aber das neue Rollenverständnis erst wachsen muss, ein Vakuum entstehen kann, das verunsichernd wirkt.

Viele Eltern wollen nicht mehr autoritär sein, sie wollen ihren Kindern viel Freiheit geben, gleichzeitig wissen sie aber nicht, wie sie oft in Situationen tun sollen. Wenn Kinder sich nicht so verhalten, wie sie das sollen, entwickeln Erwachsene häufig sehr schnell Schuldgefühle und glauben, sie haben etwas verkehrt gemacht. Diese Position schwächt aber . Omer spricht  von einer wichtigen Ankerfunktion, die die Erwachsenen in ihrer Rolle haben und die es zu entwickeln gibt.

Da merke ich nun, dass wir in den früheren Jahren eher in einer Zurückhaltung waren und wie ich mich nun ganz anders spüre und wahrnehme auch im Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen. Ich finde es sehr wichtig, dass Erwachsene als Person greifbar sind. Die Kinder müssen wissen, was sind deren Grenzen, wie ist man bei ihnen dran. Man darf sich nicht hinter einer Rolle verstecken. In den Anfangsjahren war das eher so, weil wir die Kinder nicht so bestimmen wollten. >> 

Kinder, denen Sicherheit fehlt, suchen sich dann zum Beispiel andere Kinder, um sie zu bekommen.

Wie äußert sich das?

Im Alltag kann es sein,  dass sich dann Kinder in Gruppen zusammenschließen und wenig Erwachsenenkontakt zulassen. Diesbezüglich haben wir viel reflektiert und mehr Verständnis entwickelt, wenn sich Kinder von den Erwachsenen zurückziehen. Wir gehen dann auf die Kinder zu und interessieren uns für sie, damit sich keine Eigendynamiken entwickeln, die weder ihnen selbst, der Gruppe noch deren Umgebung gut tun, und setzen auch Grenzen.

In den ersten Jahren waren wir viel in der Beobachtung und das war auch sehr wichtig, um die Kinder wahrzunehmen, was sie machen, wie sie tun. Das war aber auch etwas künstlich und die Kinder haben uns dann ja auch herausgefordert. Das lässt sich kein Kind gefallen, dass ein Erwachsener nicht zeigt, wer er ist. Jetzt mache ich mich viel bemerkbarer – nicht indem ich sage, mach dieses oder jenes, sondern indem ich aktiver bin in der Kontaktaufnahme. Da geht es auch um das Wie. Wie bin ich sicherer Anker in dieser Umgebung? Dass da jemand ist, an den man sich wenden kann, wenn man etwas machen will oder der einem auch etwas zeigt, sich für seine Person interessiert  oder der auch Stopp sagt und Grenzen aufzeigt.

Wie ist in Bezug darauf der Umgang mit den Materialien in den einzelnen Bereichen?

Alle Begleiter richten regelmäßig Materialien her oder tun selber etwas damit. Wir laden auch Kinder ein, manchmal beharren wir auch darauf einfach aus Möglichkeiten auszuwählen. Ich sehe das nicht mehr als Grenzüberschreitung einem Kind gegenüber, solange es die Freiheit hat  Nein zu sagen und ich durch dieses in Kontakt gehen, auch Wichtiges vom Kind oder Jugendlichen erfahre. Denn wenn ich in der Freiheit bin mit dem Kind und mich dafür interessiere, was es gerne machen mag oder auch Widerstände zeigt und ich das Kind darin begleite, ist das viel ehrlicher im Kontakt und hilfreicher für seine Entwicklung, als wenn ich in einem zurückhaltenden Vakuum verharre.

Kinder und Jugendliche brauchen dieses präsente Sein der Erwachsenen, als Ankerfunktion, sichere Menschen, die spür- und wahrnehmbar sind im Beziehungskontakt, und natürlich auch in ihrer Kompetenz.

Hat dieses Präsentsein auch dein Rollenverständnis als Begleiterin verändert?

Am Anfang war es ungewohnt  Kinder in einer Umgebung zu begleiten , wo sie selbst ihre Aktivitäten wählen können, und es hat sich auch komisch angefühlt. Das sagt auch die Neurbiologie, dass sich neue Erfahrungen erst integrieren müssen und es Zeit braucht. Zuerst ist es einfach ungewohnt.

Ich bin immer sehr dankbar für Kinder, die mich herausfordern, denn die bringen mich an meine wunden Punkte. Am Anfang haben wir uns nicht gefragt, wie wir selbst in dieser Situation da sind – was ich persönlich dazu beitrage, was in mir abläuft. Der Fokus, was in uns selbst geschieht, war früher nicht so wichtig. Wir haben mehr beobachtet, was das Kind macht und weniger, was die jeweilige Situation mit mir macht. Wenn ich aber nicht darauf schaue, welche Gefühle z.B.: ein bestimmtes Verhalten in mir auslöst, was in mir triggert – wenn ich mir nicht bewusst bin, was in mir los ist – es kann mich freuen oder ärgern, verunsichern usw., dann erschwert bis verhindert das auch eine echtes in Kontaktsein.

Wenn mir bewusst ist, was in mir los ist, kann ich adäquater reagieren. Dazu gehört auch, dass ich meine Gefühle  Kindern gegenüber äußern kann – aber in einer Art natürlich , dass ich niemanden damit überschütte oder verletze.

Hier hat mir auch das Konzept der „neuen Autorität“ von Haim Omer viel geholfen.  Da gibt es viele Hilfestellungen. So muss ich zum Beispiel nicht in jeder komplexeren Situation sofort Handlungslösungen finden. Ich kann mir selber die Zeit geben, klarer oder ruhiger zu werden und das dem Kind auch mitteilen, das ich noch nachdenken will oder mich beruhigen muss und dann wieder in Kontakt trete.

Das Eigene miteinzubeziehen haben wir in den ersten Jahren nicht so gepflegt. Es ist aber ganz grundlegend, wenn es zu einer Haltung werden soll und nicht zu einer Methode – dann muss das Eigene mit einfließen. Was läuft in mir ab? Was macht das mit mir? Wie fühle ich mich jetzt? Die Innensicht ist ganz wichtig, wenn man in einem offenen entspannten Kontakt mit Kindern sein will. Hier entsteht dann für mich Verständnis und eine Haltung als Teil von einem selbst. Auch wenn man mal nicht so reagiert, wie man das möchte, kann ich mich in Selbstliebe üben. Ich  merke, was bei mir   los ist, wenn man das ein bisschen trainiert. Da kann man eine körperliche Reaktion wie Herzklopfen registrieren , zum Beispiel.

Wie ist das bei Kindern und Jugendlichen?

Kinder haben das noch eher und Jugendliche haben das ganz stark. Die sind viel mit ihren Befindlichkeiten und mit sich selbst beschäftigt. Sie können stundenlang über sich selbst reden, über sich und wie sie sich erleben mit den anderen, was das mit ihnen macht. Ich genieße das immer, wenn ich das sehe, denn die Fragen der Jugendlichen sind: Wer bin ich denn auf dieser Welt? Wer möchte ich sein? Da braucht es auch diesen Raum.

Ist Selbstwahrnehmung etwas anderes als Selbstbeobachtung?

Die Selbstbeobachtung schafft für mich Distanz. Das Wort Selbstwahrnehmung ist mir hier lieber. Dass ich im Laufe der Zeit den Fokus mehr auf mich selbst gerichtet habe, erlebe ich auch als eine große Bereicherung und Hilfe in der Arbeit mit den Kindern. Es macht viele Situationen leichter.

Selbstwahrnehmung braucht man in allen Bereichen, wo man mit Menschen arbeitet, nicht nur in der Lernwerkstatt.

Es ist ganz leicht, wenn Kinder sich fehlverhalten, über sie zu schimpfen und zu klagen– das Andere wäre, mal zu schauen, was will das Kind mir sagen, was steckt dahinter, was macht das mit mir und wie kann ich  handeln? Das ist viel hilfreicher. Den anderen kann ich nicht ändern, aber ich kann mein Verhalten  steuern. Ich kann mit mir selbst anders umgehen und schauen, was ich brauche. Insofern ist das schon eine neue Rolle auch. Die Verantwortung ins Außen zu geben ist immer viel einfacher.

Aber natürlich können auch äußere Umstände sehr schwierig sein. Es können  Kinder eine so große Herausforderung sein, dass man kapituliert und dann ist es wichtig, sich einzugestehen, dass man es nicht schafft.

In diesem freigeist geht es um Rollenbilder. Was ist der Unterschied zwischen der konventionellen Lehrerrolle und der Rolle des Begleiters in der Lernwerkstatt?

Der konventionelle Lehrer muss einen Lehrplan erfüllen, er hat genaue Zielvorgaben. In der Lernwerkstatt ist das nicht so. Hier ist es die Herausforderung, dass wir Kindern eine Umgebung schaffen möchten, wo sie sich auf vielen Ebenen in Freiheit entwickeln. Das ist ein  grundlegender Unterschied. Ich bin aber überzeugt, dass Kinder auch in der Regelschule präsente und an Kontakt und Beziehung interessierte Menschen brauchen.

Dazu braucht es eine gute Selbstwahrnehmung. Wie kann diese geschult werden?

Mir hat da der Ansatz des amerikanischen Psychiaters Daniel Siegel  sehr geholfen, der meint, dass eine Schulung der Selbstwahrnehmung eine gutes Handwerkzeug ist, dass einem zum Beispiel Gefühle in Situationen nicht so überschwemmen und man schneller zur eigener Klarheit kommt.

Es gibt da ganz einfache Gewohnheiten zur Schulung der Eigenwahrnehmung.

Er empfiehlt zum Beispiel jeden Tag, 12 Minuten sind schon optimal, sich Zeit und Ruhe zu nehmen um den Fokus auf den eigenen Atem zu richten.  Das verändert schon etwas im Gehirn. Es schafft neue Handlungsmöglichkeiten. Es kann sich etwas neu verdrahten und vernetzen. Es schafft neue Möglichkeiten, etwas wahrzunehmen. Das ist mir ganz wichtig – die Eigenwahrnehmung zu schulen.

Wie schaffst du es als Mutter, Großmutter, mit Partnerschaft und Haushalt und neben deinem Beruf die Eigenwahrnehmung zu schulen?

Natürlich ist das nicht immer so einfach, aber ich mache das jeden Tag und brauche es auch für meine Ausgeglichenheit.

Je sicherer man mit sich selbst ist, umso mehr Sicherheit kann man geben. Und Kinder brauchen viel Sicherheit.

Ich danke für das Gespräch!