Diagnose: Porona

Wenn mich unsere Kinder fragen, wie es denn so bei mir in der Schule war, kommen mir als Erstes immer die Scherze und Streiche in den Sinn, die wir den Lehrer*innen gespielt haben. Die strenge Hierarchie und Fremdbestimmtheit, so scheint mir, braucht als Gegengewicht den Humor. So erkläre ich mir auch, wieso Schulwitze und Schulstreiche nach wie vor so viel Anziehungskraft ausüben. Wie wird mit Humor und Streichen in der Lernwerkstatt umgegangen, dieser Frage wollte ich nachgehen und habe ehemalige Lernwerkstatt-Schüler*innen unterschiedlichsten Alters dazu befragt.

Von Gudrun Totschnig, unter Mitarbeit von David Meixner und Luca und Verena Herleth.

Die Antworten auf meine erste Frage – Hast du viel gelacht in der Lernwerkstatt? – waren wenig überraschend, wie erwartet: In der Lernwerkstatt wurde und wird – dazu später – viel gelacht! 

Ich frage weiter:

Kannst du dich an besonders lustige Situationen erinnern?

„Wir haben es beispielsweise einmal geschafft, Davids Fingernägel pink zu lackieren, während er geschlafen hat.”

„Schneewochen waren immer lustig und ich fand es lustig, als mal ein Begleiter beim Baseball ein vorbeifahrendes Auto getroffen hat.”

„Als wir heimlich am Dachboden der Schule übernachteten (ohne Wissen der Begleiter) haben wir sehr viel gelacht ;-).”

„Ich erinnere mich an superlustige Seki-Reisen, in denen wir extrem viel Spaß hatten, von einem Flashmob in der Budapester Innenstadt bis zu Streichen auf den Schneewochen.”

„Es gab immer mal wieder Phasen, wo bestimmte Sachen und Späße in der Gruppe aktuell waren, z.B. jemand, der gerade gähnt, wurde in den Bauch gezwickt. :)”

Wie haben die Lernbegleiter*innen auf Scherze und Streiche reagiert?

„Meistens war das alles recht harmonisch und die Begleiter haben sogar oft bei Blödeleien und Späßen mitgemacht.”

„Ich erinnere mich kaum an schlechte Reaktionen, wir haben immer drauf aufgepasst, keine zu großen Grenzen zu überschreiten. Die Lernbegleiter, waren auch (meistens) für einen guten Scherz zu haben.”

Hast du das Gefühl, Scherze und Lachen hatten in der Lernwerkstatt Platz?

„Ja, voll!”

„Ich hab das auf eine recht wertschätzende Art erlebt, ganz anders als z.B. in Regelschulen, wo Scherze und Streiche weit mehr in Richtung Bloßstellung und Mobbing gehen.”

„Ja, durchaus, man hat mit den meisten Leuten todernste Gespräche führen können, aber auch mit ihnen scherzen und über lustige Dinge reden. Das hatte beides seine Berechtigung.”

Und wie sieht es heute aus? 

Ich habe zwar keine Befragung unter aktuellen Schüler*innen gemacht, in der Redaktionssitzung sind wir aber auf ein derzeitig tägliches Angebot in der Lernwerkstatt aufmerksam geworden, das ein Brennpunkt für Humor zu sein scheint, denn die Kinder von Redaktionsmitgliedern lachen noch zuhause, wenn sie davon erzählen. Es handelt sich um Lernbegleiter Davids tägliche Impro- und Fortsetzungsgeschichte(n). Dieses Angebot erfreut sich so großer Beliebtheit, dass meist über 30 Kinder und Jugendliche von 6 bis 15 Jahren die Geschichte hören wollen. Am Anfang wurden die Geschichten in der Bücherecke erzählt, diese wurde rasch zu eng, noch dazu in Zeiten von Corona, so wurde das Angebot in den Festsaal verlegt. Eine kleine Kostprobe gefällig? Luca Herleth, 9 Jahre alt und begeisterter Zuhörer, hat einen Teil der inzwischen zweieinhalb Wochen langen Geschichte nacherzählt: 

„Es begann heute so, dass zwei Kinder von dem besonderen Dorf mit der Geldbörse ihrer Eltern einkaufen gingen. Es war so viel Geld darin, dass sie ein Knallergeschäft, aber auch einen Eissalon kauften. In dem Eissalon gab es ein ganz besonderes Eis, das Black Pearl hieß. Wenn man das Black Pearl Eis isst, kann man sich wünschen, wohin man reisen möchte. Natürlich aßen die Kinder dieses Eis und wünschten sich bei Piraten zu sein. So kam es, dass sie sich auf einmal vor einem Dschungel befanden. Ein aufgeregter Gecko hüpfte auf sie zu und rief dauernd: „Zii, Zii, Zii!“ Er hatte einen Sprachfehler und sagte statt „o“ immer „i“. Also hatte er eigentlich „Zoo“, „Zoo“, „Zoo“ gerufen. Die Kinder blickten sich um und stellten fest, dass sie wirklich im Zoo waren. In einem Gebüsch sahen sie einen Mann, der zwei Hühnchen über dem Feuer grillte. Es roch so lecker, dass die Kinder dorthin wollten. In jenem Moment kam Fabio Wibmer auf seinem Fahrrad als Postbote vorbei und brachte dem Mann, der grillte, der eigentlich ein Mörder war, die Post. Jetzt gab es eine neue Regel, nämlich dass jeder, der die >> 

Post bekam, auch einen Corona Test machen musste. Der neue Test wurde in der Nase und in den Ohren durchgeführt. „Ohh, du hast aber schmutzige Ohren!“, rief der Postbote und schickte den Mörder erst einmal zum Ohrenputzen. Dieser dachte sich: „Das mache ich ganz schlau! Ich habe ja in meinem Bad eine Brause, damit werde ich mir die Ohren waschen!“ Flott sprang er zu seinem kleinen Häuschen. „Darf ich kurz meine Hände waschen?“, fragte der Fahrradpostbote. Der grillende Mörder nickte und schickte ihn in die Küche. Dort waren unheimlich viele Knöpfe angebracht. Verwirrt drehte der Postbote an dem einen und an dem anderen. Dummerweise hatte er an dem Druckventil gedreht, das den Druck der Brause im Bad steuerte. So kam es, dass der Mörder bei seinem Versuch sich das Ohr zu reinigen, so fest in die Luft gespritzt wurde, dass er durch die Decke in sein Schlafzimmer flog. Dort landete er zum Glück auf seinem Bett. „Sind Sie fertig mit der Ohrreinigung?“, rief der Postbote. Der Mörder nickte und entschied, einfach wieder durch das Loch im Fußboden in das Badezimmer zu springen. Leider blieb er diesmal in der Toilette stecken. Er versuchte herauszukommen und berührte dabei einen Knopf, der die Saugfunktion des Klos aktivierte und er wurde immer tiefer in die Toilette gezogen. „Aaaa!“, schrie der Mörder und zog an einem Hebel. Jetzt kam wieder so viel Wasser heraus, dass es ihn erneut hinauf in das Schlafzimmer schoss. Nun hörte er von unten seine sprechende Waffe rufen: „Es gibt was zu tun! Komm!“ Mit einem Seufzer ging der Mörder die Treppen hinunter. Der Postbote war inzwischen verschwunden. Die Hühnchen auf seinem Feuer waren jetzt langsam fertig und die Kinder wollten sehr gerne davon essen. Doch als sie sich weiter näherten, sprang ihnen ein Zombie entgegen. Dessen Auge hing ihm aus der Augenhöhle und er rief: „Achtung, der Mann ist ein Mörder. Er bringt mich dauernd um. Mindestens einmal am Tag. Jeden Tag schießt er auf mich!“ Die Kinder erschraken und sprangen auf ein Pony, das vorbeikam, und ritten schnell davon.“

Auch wenn es sich hier nur um einen Teil der ganzen Geschichte und eine Nacherzählung handelt, kann ich mir die Stimmung im Festsaal gut vorstellen, wenn David zu erzählen beginnt. Ich frage per Mail bei David nach:

Wie kommt Lucas Nacherzählung bei dir an?

Ich finde es immer wieder unglaublich, wie intensiv Kinder Geschichten aufnehmen – und es ist für mich besonders, zu lesen, wie Luca diesen einen Erzähltag originell nach- und weitererzählt.

Gleichzeitig ist‘s beim Nachlesen immer ein bisschen so, als würde man ein Konzert oder Sportevent erzählt bekommen … nur live ist wirklich spürbar, was das spontane Geschichten-Erzählen so besonders macht. Und als Erzähler bin ich jedes Mal neu auf das Publikum und meine Verbundenheit mit ihm angewiesen.

Wie bist du auf die Idee gekommen, diese Geschichten anzubieten? Und seit wann bietest du sie an?

Schon als ich 1999 in die Lernwerkstatt kam, gab es die Mittagsgeschichte als Abschluss des Tages. 

Manche meiner Kolleg*innen lasen aus Büchern, andere, besonders Norbert, war für sein Erfinden und spannendes Erzählen von Geschichten bekannt. Die erste Zeit fühlte ich mich sicherer, aus Büchern zu lesen und konnte es mir noch nicht vorstellen, völlig frei zu erzählen. Damals kamen viele ältere Primariakinder und Vorsekis zu der Mittagsgeschichte und die wollten sich gruseln. Meine ersten erzählten Geschichten (ich schätze ab 2001) waren deshalb vom Ton her eher Abenteuergeschichten mit Grusel- und Grausel-Faktor. Irgendwann kam dann die Idee dazu, dass ich die Geschichte anhand von Wörtern, die die Kinder mir vorgeben, erzähle. Nach diesem Prinzip erzähle ich bis heute.

Bei der Geschichte, die Luca nacherzählt hat, waren das folgende Wörter:

VERRÜCKTE GROßELTERN * VERKLEINERUNGSMASCHINE * EIN LUSTIGES GECKI (daraus wurde der Gecko mit Sprachfehler) * EISFRÖSTEL-FURZMASCHINE * RAF CAMORA * BANANE * POSTBOTE * KATZE * PONY * HUND * REDENDE BLUME * EIN VIRUS, VON DEM DER ARSCH WÄCHST * AUTOMATISCHE SESSELWURFMASCHINE * EIN KLO, DAS SICH SELBST UND DEN KLOGEHER RUNTERSPÜLT * DÜSENKLO * CAPTAIN JACK SPARROW und DIE BLACK PEARL * FOHLEN * UNSICHERBARE HAND * FABIO WIBMER * EIN MÖRDER MIT SPRECHENDER WAFFE * EIN UNSICHTBARER TIGER * VERGRÖßERUNGSMASCHINE * DINO, DER MENSCHEN FRISST * GEISTERJÄGER * WASCHMASCHINE, DIE SICH SELBST WÄSCHT * ATOMBOMBEN-METEORITENSCHAUER * WASSERHAHN * HEIDELBEERE * KEINE AHNUNG * VERSTELLBARE PLATZMASCHINE (bringt alles zum Platzen) * ZOMBIE, DER IMMER VOM GLEICHEN MÖRDER GETÖTET WIRD

Erfindest du alles komplett neu, oder hast du für dich ein Gerüst vorbereitet, in dem du dann die Signalwörter einbaust?

Das ist immer wieder unterschiedlich – meist kommen spontan Bilder für ein Anfangssetting, dann kommen auch die Geschichten drum herum. „Offene“ Geschichten dürfen selber weiterarbeiten und sich z.B. beim Kochen, Lesen, Joggen – oder sogar am Klo wieder melden. Manchmal konsultiere ich auch eine alte David-Geschichtengeherin, die übrigens am rosa-Fingernagel-Vorfall nicht unbeteiligt war. An anderen Tagen ist mir selbst oft noch schleierhaft, was wohl heute passieren wird … und ich vertraue darauf, dass es gut weiter gehen wird.

Wann lachen die Kinder am meisten?

Setzt du da gewisse Stilmittel immer wieder ein, da sie für einen Lacher gut sind? Verena (Lucas Mama und Redaktionsmitglied) ist z.B. aufgefallen, dass die Figuren in den Geschichten oft durch Wände schießen. Sind vielleicht extreme Übertreibungen bei den Kindern sehr beliebt?

Klar, Übertreibungen sind einfach lustig. Genauso wie komplizierte und nervige Erwachsene. Oder, ein oft gewünschtes Motiv: die „verkehrte Welt“, in der etwa die Kinder ihre Eltern in die Schule bringen usw. Wenn es jemanden durch Wände schießt, ist das natürlich große Action, aber lustig sind dann meist auch die peinlichen Situationen, die entstehen, wenn etwa ein an einen Ohrensessel gebundener strenger Mann im falschen Bett landet. Szenen, wo sich Charaktere verlieben, sind gerade für Kinder rund um das Vorseki-Alter (etwa 12) superpeinlich, aber gleichzeitig voll interessant. 

Auch Wortspiele, denen ich ja bekanntlich auch nicht abgeneigt bin, finde – zumindest ich – lustig. So bekam der Mörder in der letzten Mittagsgeschichte auch das erschütternde Testresultat, dass er zwar kein Co-, aber Porona hat: Keine leichte Diagnose, wie sich wohl in den nächsten Erzähltagen noch zeigen wird.

Hat sich das über die Jahre verändert? Und: Wirfst du auf deine Geschichten auch einen pädagogischen Blick?

In meinen ersten Jahren in der Lernwerkstatt war ein durch einen Vorhang abgetrenntes Eck im Bewegungsbereich der Ort für Mittagsgeschichte, später nahm diesen Platz das Turmzimmer (der Musikbereich) ein, danach posaunten die Schulorchester-Proben die Mittagsgeschichtenhörer in die Bücherecke im Sprachbereich.

Inhaltlich sind manche eingebrachte Wörter auch Spiegel ihrer Zeit: Pokemons, Justin Biebers, Harry Potters, Mörder, Terroristen, Bomben – aktuell auch Fabio Wibmer oder Raf Camora.

Gleichzeitig gibt es „Evergreens“ wie Pferde, magische Gegenstände, etwas schräge Großeltern, Polizisten, Schloss, Geister….

Pädagogisch überlege ich da ehrlich gesagt nicht zu sehr, ich passe eher auf, kein Moralin in die Geschichten zu verpacken, eher setzen sich Mut, Überraschung und Nicht-Konformität durch. 

Das Gute gewinnt nach viel Tohuwabohu meist auch, aber so ist das ja auch in echt, oder?