Immer wieder finde ich es erstaunlich, an welchen Orten sich fantastische Gebäude finden lassen. Wie beispielsweise hier am Semmering, in Gloggnitz. Erstaunlich deshalb, da man in einer knapp 5.900 Einwohner zählenden Gemeinde ein Schulgebäude dieser Größe und von dieser qualitätsvollen Architektur kaum vermuten würde. Also mache ich mich bei Schneefall Ende Jänner dieses Jahres auf Einladung des niederösterreichischen Architekturnetzwerks ORTE auf den Weg. Bürgermeisterin Irene Gölles als Bauherrin und Volksschuldirektor Herbert Pfeiffer als Nutzer werden gemeinsam mit dem Architekten Dietmar Feichtinger an diesem Tag durch das im Oktober 2019 eröffnete Haus führen.
Von Franz Josef Gaugg
™ Ich möchte jetzt nicht von den glanzvollen Zeiten des Semmerings des frühen 20. Jahrhunderts singen, dessen imposanter Hintergrund einst das Schulprojekt der Eugenie Schwarzwald inspiriert hatte. Denn. Um Gebäude wie Feichtingers neues Schulzentrum zu ermöglichen, benötigt es bestimmte Voraussetzungen: ein offenes Wettbewerbswesen und den Willen der politisch Beteiligten, das Wagnis des Neuen einzugehen und das Projekt mitzutragen.
Der Architekt Dietmar Feichtinger ist hierzulande kein Unbekannter. Sein international renommiertes Büro Dietmar Feichtinger Architects, mit Sitz in Paris und Dependance in Wien, plante hierzulande beispielsweise die Erweiterung der Tabakfabrik in Krems, den Sitz der Donauuniversität, als spannenden Dialog von Alt und Neu. Ein anderes bekanntes Bauwerk ist eine der bislang letzten Brücken über die Seine in Paris, die Passerelle Simone-de-Beauvoir, 2006 errichtet.
In Gloggnitz angekommen verhindern Schneefall und Nebel die Sicht auf die umliegende Bergkulisse. Soeben habe ich das Auto abgestellt, setze meine Schuhe in den frischen Schnee, klappe den Mantelkragen hoch und stapfe mit schnellen Schritten Richtung Schule. Den Kopf halte ich gesenkt, um vermeintliche Stolperstellen im Schneefall bereits im Vorfeld ausfindig machen zu können. Vor dem Eingang, unter dem Schutz des vorspringenden Obergeschoßes, klopfe ich den Schnee von Mantel und Schuhen ab und öffne die Tür. Ohne das Gebäude von außen recht wahrgenommen zu haben, betrete ich das Foyer. Die tropfenblinde Brille habe ich abgenommen, geputzt, wieder aufgesetzt. Vergebens, denn die obligatorische Mund-Nasen-Schutzmaske lässt die kalte Brille gleich wieder beschlagen. Also Brille wieder runter, wieder putzen. Es ist – ich kann es nicht anders sagen – ein echtes Gfrett mit den äußeren Umständen. Obwohl die Nässe von draußen noch spürbar ist, weicht die Hast der Schritte allmählich einer spannungsvollen Ruhe. Es ist noch etwas Zeit bis zum Beginn der Führung. Die Brille ist klar. Mein Blick schweift durch den offenen Raum.
Gleich der erste Eindruck liefert eine Überraschung. Von der Eingangszone aus lugt der unbedarfte Besucher hinunter in die nach oben offenen Turnsäle. Es sind drei nebeneinanderliegende Säle, die gegenüber dem Eingangsniveau um ein Geschoß abgesenkt wurden. Ein raumhohes Netz aus Stahlseilen ersetzt das Geländer und hält hochfliegende Bälle dort, wo sie hingehören. Das markante Stahlfachwerk schwebt über dem Turnsaalbereich, trägt das darüberliegende Flachdach. Über Lichtauslässe wird natürliches Licht in den Turnsaalgraben geführt. Der Raum klirrt und flirrt. Das meine ich jetzt nicht im Sinne der Akustik, sondern visuell, es gibt einfach viel zu sehen, denn es ist viel zusammengepackt in diesem Geschoß: in der Achse des Eingang führt eine Treppe hinunter ins Untergeschoß, vorbei an einem fetten Pult, das an eine Hotelrezeption erinnert und wahrscheinlich für den Schulwart gemeint ist. Irgendwo auf der anderen Seite der Turnsaalbecken zeichnen sich weitere Räumlichkeiten ab, später werde ich erfahren, dass es Werkstätten, Bibliothek und Küche sind. Der Küche vorgelagert ist eine offene Kantine. Ein paar Garderobenbänke schieben sich zwischen die Kantinenzone mit dem breiten Gang und einer kleinen Tribüne aus Sitzstufen, die einem der Turnsäle zugeordnet sind. Es wurden also ein- und zweigeschoßige Raumzonen in dieses Volumen hineingearbeitet. Alles das ist von meinem Standpunkt aus zu sehen, mit einem Blick!
Vom Außenraum ist das Zugangsgeschoß durch eine raumhohe Glasfassade getrennt. Das breite Trottoir schwappt in den Innenraum herein. Dieser Effekt ist vom Architekten, das ist von dieser Architektur so gewollt: die Grenze zwischen dem Innen- und dem Außenraum soll aufgehoben werden, visuell zumindest. Für den Heizungsbauer, das sei hier angemerkt, ist diese Grenze sehr wohl vorhanden, muss dieser doch genau wissen, wie weit die Heizung reichen soll, damit das Gebäude entsprechend beheizt werden kann. Eine Grenze, das wird mir hier wieder klar, ist mehrdeutig, vielschichtig: die einen möchten die Grenze auflösen, zum Verschwinden bringen, andere benötigen die Grenze unbedingt!
Nachdem offensichtlich die letzten Teilnehmer eingetrudelt sind, kann die Tour durchs Schulgebäude beginnen. Dazu schiebt sich die Gruppe durch das Stiegenhaus hinauf ins erste Obergeschoß, auf die Dachterrasse. Das Stiegenhaus ist eine schnörkellose – „straight“ heißt das im Neusprech – bloß funktionale Verbindung zwischen den Geschoßen. Überhaupt ist das gesamte Gebäude, wie ich bis jetzt gesehen habe, sehr „straight“, mit großer Konsequenz und hoher Disziplin durchkonzipiert. Übrigens, hier oben auf der Dachterrasse sind die Lichtauslässe über den Turnsälen als Glaskabinen sichtbar, durchstoßen die Lärchenholzterrasse, ragen zwergenhaft empor. Im Obergeschoß befinden sich auch sämtliche Klassenräume der vier Schultypen, die in diesem Gebäudekomplex zusammengefasst wurden: Volksschule, Sonderschule, Neue Mittelschule und Polytechnikum. Außerdem ist auch die Musikschule in diesem Haus untergebracht. Bestimmte Räumlichkeiten werden von den örtlichen Vereinen und Initiativen genutzt. Letzteres hebt die Bürgermeisterin besonders hervor, wie auch die Entscheidung der Gemeinde, dieses Schulzentrum hierher in den Ortskern zu legen und nicht – aufgrund der beträchtlichen Kubatur – an den Ortsrand, wie so oft üblich, auf die grüne Wiese zu knallen. Das neue Schulzentrum steht nun am Grundstück der alten Schule aus dem 19. Jahrhundert, die im Zuge des Neubaus abgebrochen wurde. Damit wurde den verschiedenen Aktivitäten in der Gemeinde Raum und Platz gegeben. Das neue Schulzentrum wurde nicht zuletzt durch seine Lage im Ortszentrum, wie die Bürgermeisterin meinte, zum „Ort der Begegnung“.
„Ort der Begegnung“ – diese meines >> Erachtens etwas abgeschmackte Floskel weist zwar in die richtige Richtung, zeigt aber die Brisanz der Thematik zu wenig auf. Es darf ruhig klarer herauskommen, was da tatsächlich passiert. Gemeinsam mit dem Kindergarten ist die Schule ein wesentliches Element der Grundversorgung in einer Gemeinde. Von daher finde ich es richtig, diese Institutionen möglichst nahe ans Ortszentrum zu rücken, sichtbar im Zentrum zu platzieren. Das meine ich nicht bloß als symbolischen Akt. Das ist funktional und verkehrstechnisch auch ziemlich sinnvoll, ganz zu schweigen von der Belebung der weitum dahinkränkelnden Ortskerne. Denn. Wer möchte nicht nach dem wöchentlichen Training mit den Trainingspartner*innen auf ein schnelles Getränk gehen oder vor dem Training noch rasch einen Einkauf erledigen, am Weg? Oder jemanden treffen, zufällig, überraschend, weil das eben der Ort ist, wo man zusammenkommt, gesehen wird? Weil die Aktivitäten hier in ihrer Vielfalt aufgehoben sind, pulsiert hier das Leben, das Ortsleben. Ja, der Ort, die Stadt, wird lebendig, weil dieses Schulhaus, weil das Ortszentrum dafür offen ist. Auf den Städtebau heruntergebrochen heißt das: Dichte erzeugen, um dem Leben Raum zu geben.
Die einleitenden Worte sind gesprochen, auf der Terrasse wird es allmählich kalt. Der überdachte Teil schützt zwar vor dem Schnee, aber nicht vor der Kälte. Also Masken wieder rauf und zurück ins Gebäude, um die Klassenräume, die sich allesamt hier, im ersten Obergeschoß befinden, anzusehen. Sie sind über großzügige Flurzonen verbunden. Die Lehrerzimmer befinden sich ein Geschoß darüber, das, so werde ich später erkennen, den markanten Abschluss der Gebäudesilhouette bildet.
Das Schulgebäude sei keine klassische Clusterschule, meint Architekt Feichtinger, da die Schultypen nicht streng voneinander getrennt seien, sondern lose gruppiert. Mit der großen, verbindenden Fußbodenebene wird ein Raumkontinuum erzeugt, dessen abgegrenzter Teil die Klassenzimmer sind. Raumhohe Lichtschlitze in den Klassenräumen ermöglichen Einblicke und Ausgucke in die Gangzonen dieses Raumkontinuums. Damit sind auch die Klassenzimmer stets Teil des gesamten Raumes – bei jedem zweiten Klassenzimmer kann sogar die Trennwand zum Gang hin bei Bedarf weggeschoben werden. Manche Lehrkräfte, so berichtet Volksschuldirektor Pfeiffer, hätten anfangs Schwierigkeiten gehabt, mit dieser Transparenz umzugehen, sie hätten sich beobachtet gefühlt. Es wurden verschiedene Lösungswege überlegt, ob man nicht Folien auf die Fenster kleben könne oder Ähnliches. Schließlich sei man beim ursprünglichen Konzept geblieben. Der Architekt freut sich – auch der Architekt in mir. Schon klar, es ist nicht jedermanns Sache, sich einem anderen, einem fremden (Raum-) Konzept zu öffnen. Der Raum wird also zum Wackelbrett, auf dem man erst lernen muss zu balancieren. Aber Schwupps, passiert’s, dass aus einer anfänglichen Unbequemlichkeit ein Standpunkt wird, nachdem die Balance gefunden ist. Daran ist erkennbar, dass eine Öffnung, ein Schlitz, nicht einfach ein Loch halt irgendwo ist. Eine Öffnung in einer Wand kann auch zu einer geistigen Öffnung motivieren: „there is a crack, a crack in everything; that’s how the light gets in,“ sang einst Leonard Cohen.
Ein Gedanke, den Direktor Pfeiffer erwähnte, beschäftigt mich, während wir durch die Klassenräume wandern. Er meinte, dass der Schulerfolg in der Verantwortung der Lehrenden liege, daher hätten diese die Aufgabe, die Kinder auf ein bestimmtes Leistungsniveau zu bringen. Als wichtigen Beitrag dazu sehe er den Schulraum. Im neuen Schulgebäude wäre die Stimmung unter den Schüler*innen nämlich ruhiger, ausgeglichener als zuvor. Das Wort Leistungsniveau im Zusammenhang mit Volksschule hat mich, ehrlich gesagt, erschreckt. Erschreckt, da es so klar ausgesprochen wurde: bereits Volksschulkinder haben also etwas zu leisten und werden darin von den Lehrenden unterstützt – Alternativpädagogik ist das ganz offensichtlich nicht. Mit diesen Sätzen des Direktors wurde mir allmählich klar, dass das gesamte Gebäude eben genau diesem Anspruch Rechnung trägt. Ja, es setzt diesen Anspruch ins Werk, wenn Dietmar Feichtinger davon spricht, dass die Materialien den technischen Anforderungen entsprechend gewählt wurden. Materialien also danach ausgewählt wurden, was diese leisten: die Konstruktion des robusten Keller- und des flirrenden Erdgeschoßes wurde in Stahlbetonbauweise ausgeführt, für die beiden Obergeschoße, also dort, wo Klassenräume und Lehrerzimmer liegen, war das atmosphärisch ansprechende Holz das Material der Wahl. Dort, wo aus formalen Gründen eine schlankere Konstruktion gewünscht wurde, beispielsweise bei den Säulen, wurde Stahl gewählt. Großzügige Verglasungen stiften Verbindungen zwischen innen und außen, geben dem Gebäude aber auch seinen schwebenden Charakter, wenn die Fassade unter einem geschlossenen Baukörper ganz aus Glas besteht. Das Raumklima wird zwar durch die Lüftungs-, Heiz- und Kühlanlagen gesteuert, doch wird die Atmosphäre des Raumes durch die verwendeten Materialen geschaffen: Eichenholzböden, Holz-Akustikdecken, Lärchenholztüren. Wie die Materialien unverfälscht und funktionsgerecht gezeigt werden, wird auch die Konstruktion hergezeigt. Die Haustechnikleitungen werden offen geführt, Deckendurchbrüche nicht hinter Verblendungen versteckt. Das wirkt im Detail manchmal etwas schlampig, ist aber im Gesamtbild stimmig und richtig. Es gibt dem gesamten Gebäude einen rohen, direkten, technischen Charakter. Man kann sehen, wie das Gebäude funktioniert. Auf diese Weise wird das Schulhaus zu einer Lehr- und Lernmaschine, einer Raumbereitstellungsmaschine.
Die Maschinenmetapher ist nicht zufällig gewählt. Sie ist in das Gebäude eingeschrieben. Denn. Wie Menschen haben Ideen auch eine Geschichte und Ideen stecken nun einmal in Gebäuden drin, zumal sie von Architekten entworfen wurden, da kann man gar nix dagegen machen. Seit etwa 100 bis 120 Jahren sollen Gebäude – ich vereinfache hier stark – nicht mehr schön im Sinne von repräsentativ sein, sondern vor allem funktionieren. Gebäude sollen, so meinte Le Corbusier, wahrscheinlich der wichtigste Architekt des 20. Jahrhunderts, funktionieren wie Maschinen. Obendrein sollen sie selbstverständlich auch schön sein. Schön, wie Maschinen. In seinen populären Publikationen stellte er deshalb die Ästhetik von Flugzeugen, Ozeandampfern und der ersten Automobile der Ästhetik antiker griechischer Tempel gegenüber, um gegen Architekturen wie jene der Wiener Ringstraßenzeit, Historismus genannt, anzukämpfen. Damit wurde eine neue Sichtweise begründet und die Art, Architektur zu denken und zu machen hat sich seither grundlegend verändert.
„Ja. Und?“ Höre ich jetzt sagen. Nun. Das, was mich an der Aussage des Direktors so erschreckt hat, war, zu sehen, wie sehr das Gebäude in der Art, wie es gebaut ist, das Leistungsdenken in Form seiner, wie ich meine, perfekten Zweckerfüllung und seiner hohen Funktionalität zum Ausdruck bringt. Das alles in einer sehr schönen, sehr gelungenen Gestaltung! Dieses Gebäude ist die perfekte Hülle für Lehrende und Lernende des 21. Jahrhunderts, zumindest so, wie es gesellschaftlich weithin gesehen werden will – und auch honoriert wird. Schließlich wurde dieses Zentrum mit Preisen überhäuft, meines Erachtens völlig zu Recht.
Ja, diese Schule ist eine Maschine. Eine schön gestaltete, konsequent gedachte, von einem poetischen Geist getragene Maschine. Dieser Eindruck verstärkt sich, als ich mir nach dem Ende der Führung, allein, das Gebäude von außen betrachte. Die vertikalen Lamellen der Holzfassade zeigen die Holzkonstruktion der Obergeschoße her. Die Glasfassade des Erdgeschoßes lässt den hölzernen, auskragenden Baukörper darüber schweben. Diese Auskragung wird als Überdachung genutzt, die Holzlamellen im Bereich der öffenbaren Fenster dienen als Absturzsicherung. Was technisch notwendig ist, wird also Teil der Gestaltung und umgekehrt. Aus Zweck wird Form. Eine schöne Form. Architektur. Design.
Deshalb finde ich das Gebäude so gut. Schrecklich gut.