Im November 2022 traf Laurenz Mayer, Vorstandsmitglied des Instituts für freie Bildung (IfB) und Vater zweier Lernwerkstatt SchülerInnen, den bekannten Neurobiologen und Autor Dr.Gerald Hüther zu einem Online-Interview.
In diesem freigeist können Sie Teil 2 des Interviews nachlesen. (Teil 1 war in der Frühlings- Ausgabe dieses Jahres erschienen.)
In lebensnaher Weise spricht der Hirnforscher Gerald Hüther über den Umgang mit digitalen Medien, den Unterschied von Bildung und Ausbildung und was es bedeutet, liebevoll mit sich selbst umzugehen.
Interview mit dem Neurobiologen Gerald Hüther – Teil 2
von Laurenz Mayer
Foto: (c)Jan Pyko
Laurenz Mayer:
… Ich beobachte, dass Medien ein riesen Ablenkungspotenzial für Kinder und Jugendliche darstellen und da so ein Griff dorthin gelingt. Also ich glaube, Sie nennen es im Buch „Anketten an Glasscheiben“. Und wie kann man denn da Abhilfe schaffen? Ist das schon ein Merkmal dessen oder eine Auswirkung dessen, dass wir ihnen die Freude am Lernen nehmen, dass sie sich in solche Thematiken hinein flüchten?
Gerald Hüther:
Für unsere ältere Generation ist das nicht so ganz leicht zu verstehen. Digitale Medien sind ja primär erst mal Werkzeuge wie Hammer und Meißel oder Rechenschieber. Nur kann man ein bisschen mehr damit machen. Also sie sind Werkzeuge und es gibt keinen Grund, einem Kind ein Werkzeug vorzuenthalten, wenn dieses Werkzeug es ihm ermöglicht, Dinge zu tun, die anders nicht gehen. Und das Problem ist, dass das die ersten Werkzeuge sind, die wir Menschen erfunden haben, die man nicht nur als Werkzeuge wie Hammer und Meißel benutzen kann, um ein Werk zu vollbringen, sondern die kann man auf einmal benutzen, um seine Affekte zu regulieren.
Das sind Instrumente zur Affektregulation gleichzeitig, und deshalb dürfen Sie nicht auf die Medien schimpfen, sondern Sie müssen auf diesen Teil der Nutzung von Medien schimpfen und sich auch entrüsten und das auch offenlegen, wo junge Leute diese Medien einsetzen, um ihren Frust loszuwerden, um ihre Langeweile loszuwerden, um in Kontakt mit anderen zu kommen und um sich mal selber zu beweisen, dass sie was drauf haben. Wenn man das in digitalen Medien tut, dann lernt man nicht, diese Affekte, diese Gefühle und Bedürfnisse selber zu kontrollieren. Es ist dann fast so, als würde man eine Pille nehmen, die mir meinen Frust wegnimmt oder mir mein Gefühl wegnimmt, dass ich mit anderen in Kontakt sein möchte. So wird eben die Chat Maschine angestellt und dann ist man den ganzen Tag am quasseln und ersatzweise holt man sich da das Gefühl ab, man sei mit den anderen verbunden. Vor allen Dingen die Jungs sind dann in den Ballerspielen. Ich frag die: „Wann ballert ihr denn am liebsten?“ – „Wenn ich aus der Schule komme. Ich habe so einen Frust, ich muss das erstmal abarbeiten.“ Das heißt, das sind alles Affekte, mit denen die nicht umgehen können. Und da sind diese digitalen Geräte wunderbar. Und jetzt kommt es: Wir Erwachsene, wir kennen die digitalen Geräte überhaupt nur als Instrumente zur Affektregulation. Die hießen nämlich damals noch Fernseher. Und da haben wir uns davorgesetzt. Und dann haben wir uns ein Lustspiel angeguckt und einen Krimi. So alles nur, um uns abzulenken, um uns zu unterhalten, um uns nicht an die Probleme heran zu machen, die wir eigentlich zu lösen hatten, ist uns ersatzweise diese digitale Industrie sozusagen untergerutscht. Und die haben sich da auch tapfer eingeklemmt. So, also 90 % der digitalen Mediennutzung von Erwachsenen ist wohl offenbar Pornos anzugucken. Das ist ja nicht die Nutzung eines digitalen Mediums, um ein Werk zu vollbringen, sondern das ist eine Ersatzbefriedigung. Ja, und jetzt haben wir das Problem.
Und dann müssen wir ein kleines bisschen differenzierter drauf schauen und schauen uns jetzt mal an, was meinetwegen in der Corona Zeit passiert ist. Schule gab es nicht mehr. Das berichten mir auch Eltern. Da sind offenbar eine ganze Menge Kinder plötzlich auf die Idee gekommen, im Internet zu suchen, was es gibt zu dem Thema Photosynthese. Und dann haben die gemerkt, da gibt es Videos, da wird die Photosynthese so erklärt, dass man die in einer halben Stunde verstanden hat und zwar so, dass man es auch gar nicht wieder vergisst. Und da braucht der Lehrer zwei Wochen, um dasselbe zu erreichen. So, und dann heißt es, ja, auch dafür eignen sich digitale Medien ziemlich gut. Es ist ein Werkzeug für Ausbildungszwecke. Ein ausgezeichnetes Werkzeug. Man kann sich da alleine hinsetzen. Das einzige, was man bräuchte, ist, man müsste es wissen wollen, weil gezwungen davorgesetzt werden ist nichts. Deshalb funktioniert eben auch der Unterricht in den Schulen mit den digitalen Medien nicht.
Aber wenn sie sich für irgendwas interessieren, das holen sie sich da alles aus den digitalen Medien runter. Ja, und ich habe so ein Beispiel, das verfolgt mich regelrecht, weil es so einleuchtend ist. Da gab es in Stuttgart einen Kindergarten, die haben ihren kleinen Kindern, die sind dann so zwischen drei und sechs gewesen, so eine kleine Bohne gegeben und dann wird die auf ein feuchtes Tuch gelegt und dann keimt die ja aus. Und dann haben die so eine kleine Installation gebaut, wo jedes Kind am Morgen gekommen ist und hat auf den Auslöser gedrückt. Und es wurde ein Foto gemacht von der Bohne. Mit einem digitalen Gerät, vielleicht mit einem Smartphone, wurde die Bohne fotografiert und dann am nächsten Tag wieder. Die haben sich schon gefreut, wenn sie wieder fotografieren konnten. Und nach einer Woche, oder wo die Bohne dann groß genug gewachsen war, hat die Kindergärtnerin denen gezeigt, wie man das runterlädt auf den Stick und daraus komprimiert einen kleinen Zeitlupenraffer-Film macht. Dann sind die mit dem Stick nach Hause gegangen und haben ihrer Mama gezeigt, wie ihre Bohne im Kindergarten gewachsen ist. So, wer will mir denn jetzt sagen, dass man das lieber nicht machen sollte, weil man eine digitale Demenz kriegt, wenn man diese Geräte benutzt? Nee, das ist total in Ordnung. Würde ich jederzeit wieder machen. Und da sehen Sie, das Kind lernt sogar zuerst, dass das ein Gerät ist, mit dem man was machen kann und nicht, dass das ein Gerät ist, mit dem man seine Affekte regulieren kann.
Laurenz Mayer:
Sie unterscheiden ja in Ihrem neuen Buch die Begriffe Bildung und Ausbildung. Wo ist da jetzt der Auftrag der Schule? Wo ist da der Auftrag der Eltern?
Gerald Hüther:
Ja, das ist ein bisschen gemein, was ich da mache. Aber man kann ja mal genauer gucken, was denn in der Schule eigentlich stattfindet. Und da muss man sagen, das ganze sogenannte Bildungssystem ist nicht auf Bildung, und zwar Bildung für ein gelingendes Leben, ausgerichtet, sondern das ist ein Ausbildungssystem. Das fängt schon im Kindergarten an, das ist alles ausgerichtet auf späteren beruflichen Erfolg. Und deshalb wäre es ehrlicher, wenn wir sagen würden, die Schule hat die Aufgabe, die Schüler auszubilden für ihre spätere berufliche Laufbahn. Und das ist dann auch gerechtfertigt, wenn sie dann auch noch diese Selektion durchführt und die einen in eine andere Laufbahn einweist als die anderen, ist das auch noch akzeptabel. Also die eine Aufgabe der Schule ist die Ausbildung. Die andere ist die Allokation oder Selektion mithilfe der Zensuren und Abschlusszeugnisse. Und die dritte Aufgabe von Schule ist jetzt in der Corona-Krise überhaupt erst mal richtig zu Tage getreten. Das ist Aufbewahrung. Die Eltern haben zunächst erstmal nicht darüber geklagt, dass die Schüler nichts lernen, sondern dass sie die nicht mehr loswerden tagsüber. Und das hat sich die Schule sozusagen alles aufgeladen. Und jetzt kann man fragen, wo findet denn nun aber diese Bildung statt? Die Bildung fürs Leben. Und da muss man sagen, das kann man ja sowieso nicht unterrichten. Bildung, was Sie später im Leben brauchen, ist, Sie müssen mal eine Partnerschaft gestalten können. Sie müssen sich in schwierigen Situationen zu helfen wissen. Sie müssen Freunde finden. Sie müssen Handlungen planen, Folgen von Handlungen abschätzen, Impulse kontrollieren, auch mal ein bisschen Frust aushalten, sich in andere hineinversetzen, Verantwortung übernehmen. So, in welchem Schulfach wollen Sie denn das unterrichten? Das lässt sich überhaupt nicht unterrichten. Das ist Bildung fürs Leben. Und die kann man nicht in einer Einrichtung unterrichten. Die kann man nur im realen Leben durch eigene Erfahrung erwerben. Sie müssen Kindern Gelegenheit geben irgendwas zu tun und dabei zu spüren, dass es gut ist, wenn sie ihr Werkzeug aufräumen, weil sie es sonst nicht hinkriegen. Das ist auch gut, wenn die dann spüren, dass es besser ist, man kommt immer pünktlich, weil man sonst das gemeinsam nicht schafft, was man sich vorgenommen hat. Und dann lernen die so was wie Selbstdisziplin, Selbstverantwortung, Selbstreflexionsfähigkeit. Das können Sie doch nicht in der Schule unterrichten. So, und da haben wir das Buch geschrieben und haben gesagt okay, es gibt aber Bereiche, wo man das lernen kann. Die haben aber dann mit Schule nichts mehr zu tun. Die Gesellschaft hat es sich sehr einfach gemacht und hat diese Frage nicht adressiert. Hat einfach so getan, als sei das eine Bildungseinrichtung. Heißt ja auch Bildungseinrichtung. Es ist aber eine Ausbildungseinrichtung. Und wenn man jetzt genau fragt: „Wo haben wir die Räume in unserer Gesellschaft, in den Städten und Kommunen zur Verfügung, wo die Kinder Erfahrungen machen können, die sie fürs Leben brauchen?“ Muss man sagen: „Gibt es nicht. Haben wir nicht.“ Die letzten Sportvereine können nicht mehr besucht werden, weil die so lange Schule haben. Feuerwehr – hat keiner mehr Lust, die Kinder in der Feuerwehr zu begleiten. Was es früher mal gab wie Pilzsammler und Heilkräutersammler, wo die mal mitgegangen sind, gibt es nicht mehr. Das heißt, Bildung ist aus, gibt es nicht. Und deshalb haben wir jetzt eine zunehmende Anzahl (und jetzt sage ich es so bitter wie es ist) von lebensuntüchtigen jungen Menschen, die sehr gut ausgebildet sind, aber nicht wissen, wie das Leben geht. Und das ist eine Katastrophe. Und das wird höchste Zeit, dass wir da die Kurve kriegen. Und jetzt können Sie sagen, wie sollen wir denn das machen? Wir müssen die Bedeutung der Schule zurückführen auf das, was sie ist. Dadurch Räume gewinnen, auch Zeiträume gewinnen und Erfahrungsräume gewinnen, die außerhalb der Schule sind. Die können sie nicht in der Schule installieren.
Ein Vorschlag wäre: Es könnte sich ja ein Stadtteil in Wien als Bildungscampus ausweisen. Und sagen: „Wir hier im 13. Bezirk sind ein Bildungscampus und die Kinder, die hier im 13. Bezirk groß werden, die lernen im 13. Bezirk und zwar überall, wo es was zu lernen gibt, gehen die hin.“ Vormittags, nachmittags,… gehen die einen in ein Geschäft, die anderen zu einem Banker und die dritten was weiß ich wohin. Und auch ins Beerdigungsinstitut. Und dort gucken die sich das alles an, so lange, wie es ihnen Freude macht und wie sie da was lernen. Und wenn sie genug gelernt haben, gehen Sie woanders hin. Und wenn sie dann mal lernen wollen, wie der Dreisatz geht oder wie die Integralrechnung funktioniert oder wie das mit der Photosynthese ist, dann können sie ja immer noch in dieses Haus gehen, wo immer noch Schule dran steht und erfahren da kompetente Unterstützung bei der Aneignung dessen, was sie jetzt lernen wollen. Das ist eine Möglichkeit. Aber da merken Sie, da ist alles anders als wir uns das im Augenblick vorzustellen in der Lage sind. Da muss man auch fragen: „Was braucht man denn für so eine Art von Bildung überhaupt noch für Pädagogen?“ Also braucht man nicht mehr so viele Ausbilder, weil die sich dann auch das, was über die Photosynthese oder den Dreisatz oder die Integralrechnung zu lernen wäre, das können die sich da auch selber aneignen. Eigentlich bräuchte man die Schule nur noch als Ort, wo die Lerngruppen sich versammeln, die sich mit bestimmten Themen befassen wollen und wo dann eben ein Pädagoge dabei ist, der ihnen hilft, falls sie alleine nicht weiterkommen. Das wär‘s dann.
Laurenz Mayer:
Sie kennen ja die Lernwerkstatt. Ich glaube, es war 2012, als Sie die Lernwerkstatt als erste Schule Österreichs in Ihre Initiative „Modellschulen der Zukunft“ mitaufgenommen haben. Und ich denke mir, wenn ich Ihnen so zuhöre, dann höre ich viele Elemente, die wir versuchen, hier in dieser Schule auch zu leben. Gibt es irgendeine Empfehlung, die Sie hätten an Eltern? Warum Kinder eine Lernwerkstatt oder diese Lernwerkstatt oder ähnliche alternativpädagogische Einrichtungen besuchen sollten?
Gerald Hüther:
Das sind ja die tastenden Versuche, in eine Zukunft hineinzumarschieren. Es gibt eine ganze Reihe solcher Schulmodelle, wo das vor Ort einfach anders gemacht wird. Und da kommen auch andere Kinder raus. Nur die ganze Gesellschaft kann das noch nicht. Und deshalb werden Eltern gut beraten sein, wenn sie die Möglichkeit haben, ihr Kind in so eine Einrichtung zu bringen, wo es nicht lernen muss, sondern lernen darf. So, jetzt wissen Sie aber selbst aus der eigenen Erfahrung, am Ende müssen Sie, egal was für einen alternativen oder reformpädagogischen Ansatz Sie verfolgen, am Ende müssen Sie durch den gleichen Flaschenhals durch, durch den auch die anderen alle durchgejagt werden, so dass Sie irgendwie doch, so gut Sie das auch immer machen unterwegs, am Ende sich dem System unterwerfen müssen. Also Sie müssen dann doch darauf achten, dass das alles erfüllt wird, was die da fordern irgendwann. Und dann fangen auch Sie an, in diesen Schulen Ihre Kinder und Ihre Schüler zum Objekt zu machen. Das ist kaum noch zu vermeiden. Das ist ja manchmal auch schwierig, wenn man erst relativ spät zum Objekt gemacht wird. Da kann die Widerstandskraft auch inzwischen schon so groß sein, dass Sie dann welche haben, die Ihnen dann wirklich das um die Ohren hauen. Die da nicht bereit sind, sich darauf einzulassen, die dann sagen, dann mache ich lieber kein Abitur, dann mache ich lieber eine Schreinerlehre. Da würde ich sagen, das ist auch nicht schlecht. Wir brauchen auch Schreiner. Aber das ist ja jetzt nicht eine freie Entscheidung von dem Schüler, sondern das macht er ja nur, weil er jetzt so eingezwängt wird und unbedingt durch diesen Flaschenhals durch soll, was er nicht will. Also entscheidet er sich anders. In einer gewissen Weise könnte man sagen, es ist auch eine Fluchtbewegung. Ja, weil wer weiß, was aus dem geworden wäre, wenn der weiter so hätte lernen können, wie es mal angefangen hatte. Und er nicht durch diese Matura durchgemüsst hätte.
Laurenz Mayer:
Ich würde gerne noch einmal eine Schleife ziehen. Leistungsfähigkeit hat etwas (zumindest habe ich es so verstanden) mit Begeisterung und auch mit hemmender Begeisterung zu tun. Mit dem Wollen, mit dem eigenen „für etwas brennen“ sozusagen. Die Frage, die ich noch hätte: Gibt es da auch Unterschiede rein im Individuum oder braucht Leistung ein Kollektiv? Also quasi Einzelleistung versus Gemeinschaft? Was bedeutet es auch für eine Schulgemeinschaft?
Gerald Hüther:
Zunächst ist es, glaube ich, wichtig, dass wir uns noch mal klar machen, dass wir wohl offenbar alle noch keinen richtigen Begriff davon haben, wie unterschiedlich diese Kinder sind. Die kommen schon ganz unterschiedlich zur Welt. Das nennen die Psychologen dann Temperament und das sieht man ja auch. Da sind welche dabei, die sind voller Kraft, und dann sind aber auch welche dabei, die sind vorsichtig und passen gut auf. Und das sind alles unterschiedliche Talente, die da schon angelegt sind, und Begabungen. So, und dann wäre es wichtig, dass man guckt, was so ein Kind besonders gut kann und wo es sich sicher fühlt und wo es langgeht. Und man wäre nicht so gut beraten, wenn man es dort lang schubst, wo alle anderen auch lang gehen. Und wenn man das rauskriegen will, wo die Talente von so einem Kind verborgen sind, dann wäre es am besten, man lässt sie frei und unbekümmert spielen. Am besten mit anderen gemeinsam und ohne irgendeine Überwachung durch Erwachsene. Und dann kann man einfach nur zugucken, am Rand sitzen und kann dann sehen, wo jedes Kind genau das macht, wofür es sich begeistert.
Und es legt die Latte auch immer so hoch, dass es gerade drüber kommt. Was sagen die Kinder? „Das ist doch Pipifax.“ Ja, es macht keinen Spaß, die Anforderungen oder die Herausforderungen im Spiel niedriger zu legen, dass man schon gleich weiß, dass man drüberkommt. Nein, es muss auch die Gefahr bestehen, dass man abstürzt und das man es nicht schafft. Sonst ist es kein Spiel. So, und da sieht man, wie Kinder spielerisch erproben, was sie alles hinkriegen. Dafür brauchen die aber auch Zeit. Also wenn man sie dann gleich in den Förderunterricht steckt, weil man der Meinung ist, die müssen schon im Kindergarten Englisch lernen, dann ist da keine Zeit mehr für das spielerische Ausprobieren dessen, was alles geht.
So, und da ist auch schon gesagt, weil die Kinder so unterschiedlich sind, ist es eine unglaubliche Bereicherung, wenn man die nicht alleine lässt. Also ich kann es auch umgedreht sagen. Du kannst sagen, es ist nicht so günstig für Kinder, wenn sie auf Gedeih und Verderb den Schrullen und Macken ihres jeweiligen Elternpaares ausgeliefert sind. Man müsste das verdünnen, diesen Einfluss, der verdünnt sich automatisch, wenn Kinder in altersgemischten Gruppen mit anderen unterwegs sind. So wie sie übrigens 99 % der Menschheitsgeschichte immer unterwegs waren – in altersgemischten Gruppen und auch mit Erwachsenen haben die gelernt, wie das Leben geht. Und jetzt sind wir in dieser ganz kurzen Periode von vielleicht 100 Jahren auf die Idee gekommen, ihnen was beibringen zu wollen in Schulen. Das glaube ich nicht. Es funktioniert nicht und es ist wohl nur eine Frage, wie lange wir brauchen, bis wir das einsehen, dass es nicht funktioniert. Und dann hoffe ich nur, dass der Schaden dann nicht allzu groß ist, weil Lebensuntüchtigkeit ist schlimmer als mangelnder beruflicher Erfolg.
Laurenz Mayer:
Ich greife da gerne noch einmal diesen Begriff auf, der mir so gut gefällt. Es geht darum, ein gelingendes Leben zu gestalten. Und die Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen vorzubereiten oder aufrechtzuerhalten. Aber was wäre noch eine Schlussformulierung, die das nochmal aus Ihrer Sicht zusammenfasst?
Gerald Hüther:
Das, was wir alle wollen, ist, dass die Kinder im Leben erfolgreich sind. Das können sie nur, indem sie sich gegen andere durchsetzen und indem sie im Wettbewerb mit den anderen ihre eigenen Interessen höherstellen als das Gemeinwohl. Das ist die Welt von gestern. Einzelkämpfer kommen da raus, die in unseren Augen dann auch noch Höchstleistungen vollbringen. Aber das sind nicht freiwillig erbrachte Höchstleistungen, sondern die erbringen sie ja nur, weil sie sich anders in diesem Wettbewerb nicht durchsetzen können. Das heißt, es ist gar nicht ihres. Deshalb werden wir wohl, ob wir das nun wollen oder nicht, uns ein anderes Bild finden müssen. Ich weiß nicht genau, wie es sich in der Öffentlichkeit dann manifestiert, aber ich habe so ein bisschen das Gefühl, dass da im Augenblick etwas im Gange ist und dass das am besten mit dem Begriff zu umschreiben ist, dass immer mehr Menschen versuchen, „etwas liebevoller mit sich selbst umzugehen“. Das hört sich ganz verrückt an. Immer mehr Menschen versuchen, etwas liebevoller mit sich selbst umzugehen. Das fängt damit an, dass man nicht mehr alles frisst, was einem da angeboten wird. Und das geht dann weiter, dass man auch nicht mehr alles an geistigem Unrat verzehrt, der einem über die Medien angeboten wird. Und das führt dazu, dass Menschen anfangen, ihr eigenes Leben viel bewusster zu gestalten. Und ich glaube, dass das auch der Weg ist, wie wir in diese andere Welt finden, nicht dadurch, indem wir warten, bis eine neue Regierung kommt, die uns dann sagt, wie wir es machen müssen. Sondern indem wir selbst in die eigene Verantwortung gehen und unser Leben selbst gestalten. Und das einzige Kriterium, was diese Bemühungen um die Selbstgestaltung des eigenen Lebens bestimmen könnte (eventuell in Zukunft), weil es so eine hohe Attraktivität hat, heißt: „Ich möchte liebevoll mit mir selber umgehen.“ Weil in dem Augenblick, wo Sie das machen, sehen Sie sofort die Erfolge. Das ist also hochattraktiv. Das ist nicht abschreckend. Ich habe noch keinen gesehen, wenn ich ihm das vorgeschlagen habe, der gesagt hat: „Aber ich will nicht liebevoll mit mir umgehen.“ Das heißt, wenn der anfängt, das ernst zu nehmen und es dann auch ein bisschen umzusetzt, beim Bäcker, beim Essen, vorm Fernseher oder wo auch immer, dann merkt er sofort, das tut ihm gut. Er gewinnt Zeit. Er kommt mehr zu sich. Und Menschen, die liebevoller mit sich selbst umgehen, gehen auch liebevoller mit anderen um. Das ist zwangsläufig so, dann sind die Eltern auf einmal liebevoller in der Partnerschaft, liebevoller zu den Kindern. Lehrer, die sich selbst mögen, sind auch Lehrer, die die Kinder mögen. Das ist ganz eigenartig. Und dann sage ich aber nicht, man soll sich selber mögen, weil das ist so ein Begriff, sondern liebevoll mit sich selber umgehen. Das ist eine Handlung, bei der ich was spüre. So, und das könnte sein, dass das das Geheimnis ist, dass wir vielleicht versuchen sollten, unsere Schulen so zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche erstens ihre angeborene Freude am Entdecken und Gestalten und damit am Lernen auf keinen Fall verlieren und dass sie das auch so erleben als eine Auswirkung der Tatsache, dass sie liebevoll miteinander umgehen und natürlich erstmal liebevoll lernen, mit sich selbst umzugehen.
Laurenz Mayer:
Quasi als Schlussplädoyer: Wenn es gelingt, auch unseren Kindern und Jugendlichen dabei zu helfen, liebevoll mit sich umzugehen, dann könnte das schon so ein Stück sein, ihre Leistungsfähigkeit und ihre Leistungsbereitschaft nicht zu hemmen und vielleicht ein kleiner Schritt in ein gelingendes Leben. Ist das so etwas?
Gerald Hüther:
Ja, das würde die Leistungsbereitschaft auf alle Fälle erhöhen, weil die sind ja dann froh mit sich und sind gut bei sich. Was aber nicht passieren würde, ist, dass die Leistungen vollbringen, die ihnen selbst schaden oder anderen schaden. Und da sind wir jetzt zum Schluss an einer schönen Stelle angekommen: Wenn ich mit einer Leistung anfange, mir selbst zu schaden, so dass ich am Ende ein Burnout davon kriege, oder wenn ich mit einer Höchstleistungen anderen schade, weil die neben mir verzweifeln, weil sie nicht mithalten können oder weil ich sie niederkämpfe, dann hat das mit Leistung nichts zu tun. Dann würde ich das einen Missbrauch nennen, einen Missbrauch von sich selbst oder der anderen für die Durchsetzung von Lieblosigkeit.
Laurenz Mayer:
Ein wunderschöner Schlusssatz. Lieber Herr Professor, ich sage mal ganz, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit, auch für die vielen Inputs, die wir hier gewinnen können durch dieses Interview. Und danke auch noch einmal, dass wir das Interview verwenden dürfen im Namen der Lernwerkstatt. Stellvertretend hier noch einmal von Frau Glaser-Ipsmiller ganz besonderen Dank. Gibt es noch einen Schlusssatz, den ich Ihnen entlocken konnte, den wir sozusagen als „Werbebanner“ für die Lernwerkstatt verwenden könnten?
Gerald Hüther:
Ich glaube, was wir hier nicht so ganz deutlich herausgearbeitet haben, ist, dass wir als Menschen soziale Wesen sind und dass es eine Illusion ist, ein Einzelwesen könnte seine Potenziale, die in ihm angelegt sind, alleine entfalten. Für die Potenzialentfaltung brauchen wir immer andere.
Alles Gute wünsche ich Ihnen. Grüßen Sie das ganze Team und die Eltern und die Kinder und Jugendlichen. Es hat mir Freude gemacht und ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie in Zukunft weiterhin so viel Freude bei dem haben, was Sie tun. Und seien Sie mutig. Gehen Sie bis an die Grenzen dessen, was erlaubt ist!
Laurenz Mayer:
Vielen herzlichen Dank. Was für ein wunderbares Schlussstück. Dankeschön.


