Schulen der Zukunft

Wie kaum ein anderer hat sich der Neurobiologe Gerald Hüther in den vergangenen Jahren in die aktuelle Bildungsdiskussion eingebracht – sei es als Autor zahlreicher Bücher, als gefragter Referent auf Kongressen oder als (Mit-)Begründer vieler Initiativen wie beispielsweise der „Akademie für Potential-entfaltung“, „Schulen der Zukunft“ oder der erst neulich gegründeten Initiative „Würdekompass“.

Sein Ziel ist es, Lebensbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, menschliche Potentiale zur Entfaltung zu bringen – aber nicht nur in Erziehung und Bildung, sondern auch auf der Ebene der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen. Ein Interview von Rainer Wisiak.

Herr Hüther, ein wahrscheinlich vielen Lesern Ihrer Bücher unbekanntes Ereignis in Ihrem Leben ist jenes Ihrer Flucht aus der ehemaligen DDR mit Hilfe selbst gefälschter Visastempel. Was hat Sie letztlich zur Flucht bewogen?

Geflohen bin ich 1979, also zehn Jahre bevor die Mauer fiel. Gedanken zur Flucht hatte ich schon während des Niederschlagens des „Prager Frühlings“, das war 1968. Aber es hat dann noch zehn weitere Jahre gedauert, bis mir klar wurde, dass ich in diesem System keinen Tag länger bleiben will. 

Und dann muss man das ja noch vorbereiten – das hat auch ungefähr ein Jahr gedauert. Es hat mich damals auch nicht unbedingt in den Westen gezogen. Ich hatte noch kein konkretes Ziel – die Einkaufsmöglichkeiten im Westen und die dort erhältlichen Bananen waren es jedenfalls nicht (lacht). Zur Flucht bewogen hat mich also damals wohl mehr der Notstand, dass ich in einem gesellschaftlichen System unterwegs war, in welchem ich mein Grundbedürfnis nach autonomer Gestaltung meines Lebens nicht leben konnte.

Die Mauer fiel dann im November 1989, zu einem Zeitpunkt, als genügend Menschen in der ehemaligen DDR dasselbe Lebensgefühl hatten wie Sie vor der Flucht. Die Soziologie arbeitet mit Begriffen wie „Kritische Masse“ oder „Schwellenwert“. Wenn eine Bewegung den Anschein vermitteln kann, sie befinde sich im Aufwärtstrend, entsteht ein Sogeffekt, der auch die Zögerlichen mitreißt. Was hat es mit dem etwas naiven Bild der einen Schneeflocke, die letztlich die Lawine auslöst, auf sich?  

Die Vorstellung von der einen Flocke gefällt uns gut, aber ich weiß – ehrlich gesagt – nicht, ob das stimmt. Was die sogenannte „Wende“ in der DDR betrifft, war es jedenfalls ein langer Prozess, der offenbar über drei Generationen gelaufen ist und wohl auch laufen musste. 

Mein Vater kam aus einer Generation, die noch als „letztes Aufgebot“ in den Krieg geschickt worden ist. Er hat das repressive System des Nationalsozialismus und später des Stalinismus erlebt und ist nicht wieder aufgestanden. Ich gehöre zur Generation jener, die vom repressiven System des Stalinismus schon so weit weg waren, dass sie es gewagt haben, abzuhauen. Und dann ist nach mir eine Generation gekommen, die sich dann nicht mehr führen hat lassen und es gewagt hat, als Symbol dafür mit Kerzen in der Hand in die Kirche zu gehen. Die nicht mehr bereit war, die Zwangsjacken anzuziehen und sprachlos alles hinzunehmen, was das System ihnen zugemutet hat – und damit hatte man plötzlich eine andere Situation.

Man kann also sagen, dass die großen Transformationsprozesse mit einer Art Erwachen einhergehen, mit einer Art „Bewusstwerdung“, dass eben etwas so nicht mehr gewollt ist und dass man sich dem jetzt widersetzt.

Weltweit finden in allen größeren und zunehmend auch kleineren Städten Klimastreiks statt. Sehen Sie diese auch als den Beginn eines großen Transformationsprozesses, in welchem Menschen klarstellen, dass sie einen solch zerstörerischen Umgang mit unserem Planeten nicht mehr hinnehmen wollen und sich diesem widersetzen?

Das ist zum heutigen Zeitpunkt noch nicht absehbar. Fest steht, dass wir in unserer gegenwärtigen Zeit ein sehr eigenartiges Phänomen erleben: nämlich, dass dieses Erwachen nicht bei den Alten stattfindet – also nicht massenhaft. Es findet sowieso nicht bei den Politikern und den Wirtschaftsleuten statt, von denen wir meinen, das seien die Führungskräfte. Es findet auch nicht bei den Wissenschaftlern statt, wo man meinen könnte, die sollten doch am ehesten aufwachen … >>

Sondern wir sind inzwischen in einem gesellschaftlichen Zustand angekommen, wo offenbar die Einzigen, die noch wach werden können, die Kinder und Jugendlichen sind – die anderen sind alle eingepennt! Oder haben es sich bequem gemacht … 

Ist es aber nicht so, dass aus der FridaysForFuture-Bewegung auch die ScientistsForFuture-Bewegung hervorgegangen ist?

Angehängt! Die haben sich an diesen Trend angehängt – aber sie sind nicht die Generatoren dieses Prozesses.

Die Liste jener Wissenschaftler, die sich ihr Leben lang sehr intensiv in gesellschaftspolitische Diskussionen eingebracht haben, ist aber eine recht lange – man denke nur an Bertrand Russell, David Bohm oder Fritjof Capra. Sehen Sie sich, der sich ja weit über den Tellerrand der Neurobiologie hinauslehnt, auch in dieser Tradition?

Es ist ja vielleicht gar nicht so, dass das auf mich als Person zutrifft, sondern dass ich da mit der Neurobiologie in einer sonderbaren Disziplin gelandet bin. Ich habe ja versucht zu verstehen, wie das Gehirn arbeitet – und dabei ist zum Beispiel rausgekommen, dass es ein einzelnes Gehirn gar nicht gibt, sondern dass wir bei allem, was wir im Leben an Erfahrungen sammeln, immer auf andere angewiesen sind. Wir könnten ja nicht einmal auf zwei Beinen laufen mit unserem eigenen Hirn. Und dann, dass an dem Hirn ein Körper dranhängt, ohne den es überhaupt nicht funktioniert und dass sie sich wechselseitig ganz eng beeinflussen.

Das heißt: Mein Fokus auf die Hirnforschung hat dazu geführt, dass sich das Hirn als Zentralorgan aufgelöst hat. Plötzlich war auch Körperforschung mit dabei oder Fragen wie: Was sind die wichtigsten Erfahrungen, die sich ins Hirn eingraben? Und das sind soziale Erfahrungen! Das sind Erfahrungen, die man beim Versuch, sich in der Welt der schon Erwachsenen zurechtzufinden, macht – mit den Eltern, mit Geschwistern. Diese Erfahrungen strukturieren das Gehirn. Und wie kann ich dann ein Hirnforscher sein, der wissen will, wie sich das Hirn strukturiert, ohne dass ich die Erfahrungsräume erforsche, in denen sich das Hirn strukturiert?

Heißt das, die Neurobiologie ist dazu prädestiniert, sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinanderzusetzen?

Sagen wir einfach: Das, was wir haben, ist eine sehr ungünstige Situation! Denn seit der Aufklärung haben wir ja versucht, die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften zu unterscheiden. Und in diesem Prozess des Auseinanderdividierens ist dann die Biologie – und somit später die Neurobiologie – den Naturwissenschaften zugeschlagen worden. Und vielleicht ist eine der Aufgaben der Neurowissenschaften die, dass sie diese unglückliche Spaltung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften überbrückt – nach dem Motto: Was zusammen gehört, wächst auch wieder zusammen. 

Die Neurobiologie wäre dann eine objektive Naturwissenschaft, die aber, wenn man sie wirklich gründlich und zu Ende betreibt, bei Fragen endet wie: Wie erziehen wir unsere Kinder? Wie sieht unser Schulsystem aus? Wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit älter werdenden Menschen um?

Nicht so, wie Sie es in Ihrem aktuellen Buch mit dem Titel „Würde“ fordern: würdevoll!

Das ist auch der Grund, weshalb ich die „Akademie für Potentialentfaltung“ gegründet habe, bei der es eigentlich um nichts anderes geht als um die Frage: Wie kann es gelingen, dass Menschen in Gemeinschaften ihr Zusammenleben und Arbeiten und Lernen so gestalten, dass das für alle fruchtbar ist?  

Es ginge also darum, anstelle der allgegenwärtigen – wie Sie es nennen – „Ressourcenausnutzerkultur“ eine „Potentialentfaltungskultur“ zu etablieren. Davon sind wir aber in vielen Bereichen der Gesellschaft noch weit entfernt – am weitesten, so scheint es mir, wenn wir unsere Bildungseinrichtungen betrachten. Wenn es den Begriff „Schule“ noch nicht geben würde, hätten Sie ein Synonym dafür, wie Sie diese Einrichtungen benennen würden?

Hmmm … etwas umständlich vielleicht: „Einrichtungen, um junge Menschen hervorzubringen, die in der Lage sind, unser gegenwärtiges gesellschaftliches und wirtschaftliches System zu stabilisieren.“ Und jetzt dürfen Sie weiter fragen (lacht): Und was ist die zwingende Notwendigkeit, die dieses System braucht? Und dann lautet die Antwort: Wir haben ja ein auf Wachstum hin orientiertes Konsumsystem und wenn die Leute nicht mehr genug kaufen, geht das Wachstum zurück. Deshalb kann dieses System schon alleine dadurch, dass man dieser Prämisse anhängt, nur funktionieren, indem jedes Jahr noch mehr junge Leute aus unserem Bildungssystem herauskommen, die sich besonders gut als Konsumenten eignen. Und das heißt: Ein gesellschaftliches System, das sozusagen darauf begründet ist, dass Wachstum und Konsum stattfinden müssen, hat eine innewohnende Tendenz zur Verblödung der Menschen. Ein marktorientiertes Wachstumssystem kann sich gar nicht anders organisieren, als dass immer mehr junge Menschen nicht mehr wissen, was sie eigentlich wollen, innerlich nicht zufrieden und glücklich sind und deshalb bereit sind, sich alles Mögliche aufschwatzen zu lassen.

Die Kernthese Ihres aktuellen Buches lautet: „Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar.“ Was ist das eigentlich genau – Würde?

Der Begriff „Würde“ ist eine Orientierung bietende Vorstellung, an der wir Menschen unser Handeln ausrichten, eine Art innerer Kompass also, mit dessen Hilfe wir unser Leben und unser Zusammenleben so gestalten, damit es für uns selbst, aber auch für die anderen gut ist. Die Vorstellung der eigenen Würde ist tief verwurzelt und eingebettet in die innere Überzeugung von dem, was uns als Menschen auszeichnet und worin unser eigentliches Menschsein im eigenen Handeln zum Ausdruck kommt. 

Das kann aber nur gelingen, wenn wir uns selbst als Gestalter erleben und uns nicht als Objekte für die Realisierung der Absichten anderer zur Verfügung stellen oder benutzen lassen.

Sie sprachen vorhin von einem „inneren Kompass“ und in Ihrem Buch davon, dass Kinder mit einem solchen bereits auf die Welt kommen. Was bräuchten Kinder, um diesen gut zu nähren?

Das menschliche Gehirn ist biologisch auf zwei Grundbedürfnisse hin angelegt. Jedes Kind hat ein angeborenes Erkundungsbedürfnis und ein ebenso starkes Bindungsbedürfnis. Das heißt: Neugier und Entdeckerfreude einerseits sowie Geborgenheit und Nähe andererseits sind die großen Triebkräfte der Kinder, die sie glücklich machen und die es zu fördern gilt. Beides zusammen lässt ihr Potential wachsen und gibt ihnen das Gefühl, um ihrer selbst willen wichtig, bedeutsam und wertvoll zu sein, kurz: Würde zu besitzen.

Neugierde, Geborgenheit und Würde sind aber keine Begriffe, die ich spontan mit unseren Bildungseinrichtungen in Verbindung bringe. 

Wenn nicht schon im Kindergarten, dann machen doch alle Heranwachsenden spätestens während der Schulzeit unweigerlich die Erfahrung, dass sie dort auf die eine oder andere Weise zu Objekten von Unterrichtsmaßnahmen, von Belehrungen und Bewertungen gemacht werden – dass es dort gar nicht um die Förderung der in ihnen angelegten Potentiale geht.   

Das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass es sich im eigentlichen Sinne gar nicht um Bildungseinrichtungen handelt, sondern, kurz gesagt, um Aufbewahrungs-, Ausbildungs- und Selektionseinrichtungen. Die Aufgabe dessen, was in der Schule passiert, ist die optimale Vorbereitung auf das spätere Berufsleben. Sie kann Bildung auch gar nicht gewährleisten, denn Bildung für ein gelingendes und sinnerfülltes Leben findet nur im realen Leben statt. Das Leben findet nicht in einer Einrichtung statt, sondern in Handwerksbetrieben, öffentlichen Einrichtungen oder im Wald, kurz: überall dort, wo Menschen irgendetwas tun. Und diese Bildungsprozesse haben wir vernachlässigt und haben uns in eigener bedauernswerter Bequemlichkeit gegenseitig eingeredet, dass diese Bildung von Einrichtungen übernommen werden könnte und dass wir das als Dienstleistung >>

an die Schulen abgeben könnten. Ich bin inzwischen fast der Auffassung – die ich jetzt auch gerne in die Öffentlichkeit trage – dass es womöglich gescheiter ist, wenn wir es uns einfacher machen.

Und einfacher machen würde heißen?

Wir einigen uns darauf, dass Schulen keine Bildungseinrichtungen sind – sondern dass in den Schulen Ausbildung stattfindet. Letztlich haben solche Gedanken auch zum Entstehen des aktuellen Buches beigetragen. Sowie die beiden Dokumentarfilme des österreichischen Filmemachers Erwin Wagenhofer, „Lets make money“ und „We feed the world“. Ich hatte früher schon geahnt, wie es bei den globalen Geschäftemachern im Finanzsystem und weltweit operierenden Konzernen zugeht. Aber was ich dann in den Filmen sah, hat mich wachgerüttelt. Mir wurde vor Augen geführt, dass all die für die katastrophalen Zustände Verantwortlichen im formalen Sinn sehr gebildete Leute waren. Sie hatten an Eliteschulen und Eliteuniversitäten ausgezeichnete Abschlüsse erworben – aber es war keine Bildung. Es waren exzellente Kenntnisse und Fähigkeiten, um andere Menschen als Objekte zur Verfolgung ihres Anliegens der nackten Gewinnmaximierung zu benutzen.

Sie hatten zwar genau das genossen, was wir als optimale Bildung bezeichnen – aber diese hatte offenbar in keiner Weise dazu geführt, ihnen eine Vorstellung, geschweige denn ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde oder eines würdevollen Handelns gegenüber allem Lebendigen zu vermitteln.    

Wenn eine Schule also Bildung nicht gewährleisten kann, das strukturell einfach nicht kann, wäre es besser, man nimmt ihr diese Aufgabe einfach ab. 

Das würde konkret bedeuten?

Dann sind wir – oder wären wir – als Gesellschaft gezwungen, uns zu überlegen, wie wir diese vielen wunderbaren und lebendigen Bildungsorte für unsere Kinder und Jugendlichen bereitstellen. Und diesen Ansatz finde ich viel interessanter, als dass man die Schule krampfhaft in eine Bildungseinrichtung umzuwandeln versucht. Das würde auch die Lehrer entlasten und macht den Eltern klar, worum es dort geht.

Auf Ihren Vorträgen oder in Ihren Büchern sprechen Sie immer wieder von solchen Orten – von „Werkstätten des Entdeckens und Gestaltens“, von „Erfahrungsräumen zur Entfaltung der in allen Kindern angelegten Potentiale“ oder von „Begegnungsorten für das Voneinander- und Miteinander-Lernen“. Gibt es solche Orte schon?

Es gibt sie bereits – und es werden immer mehr! Aber wenn sie nicht gezeigt und öffentlich gemacht werden, bleiben sie wie Samenkörner in einem Heuhaufen versteckt. Es wird langsam Zeit, dass wir diesen Modellen mehr Aufmerksamkeit schenken und sie bekannter machen. Manche von ihnen hat Reinhard Kahl in seinem Film „Treibhäuser der Zukunft“ portraitiert, ganz viele werden  auf den Websites der deutschen oder österreichischen Initiative „Schule im Aufbruch“ vorgestellt. Man findet sie auch unter der rasch wachsenden Zahl an Waldkindergärten – in Deutschland gibt es deren schon über tausend – in denen Kinder ganz andere Erfahrungen machen können.

Ich weiß das aus Gesprächen mit Waldkindergarten-Pädagogen, die mir sagen: Wenn fünf unserer Waldkinder das Glück haben, in der Grundschule gemeinsam in eine Klasse zu kommen, dann drehen die die ganze Klasse um. Da kommen die anderen Kinder mit ihren Pokemon-Karten und mit ihren Handys oder Smartphones an und wollen denen nun alles Mögliche erzählen – aber diese fünf Kinder stehen so bei sich, dass sie sagen: das interessiert uns nicht!

Kleine Systemsprenger im positiven Sinne?

Das sind, wenn Sie so wollen, kleine Systemsprenger im positiven Sinne, denen sich dann, weil sie so attraktiv und so stark sind, die anderen in der Klasse anschließen. Und da heißt für mich die Frage dann: Warum machen wir nicht alle, die wir als Eltern unterwegs sind, eine Bewegung, um uns gegenseitig so zu stärken, dass wir solche Kinder hervorbringen?

Aber da geht es ja nicht nur um geeignete Umgebungen oder eine andere Haltung den Kindern gegenüber?

Ich glaube, da geht es erst einmal um eine neue Einstellung sich selbst gegenüber. Wer sich selbst schwach fühlt, kann auch keine Kinder stärken. Also muss man sich erst mal selbst lieben lernen und die eigene Würde wiederfinden, bevor man Kinder stärken kann.

Sie schreiben: „Unsere Würde zu entdecken, also das zutiefst Menschliche in uns, ist die zentrale Aufgabe im 21. Jahrhundert.“ Müssen wir die erst wieder entdecken?

Über einen sehr langen Zeitraum hinweg hatten wir in fast allen gesellschaftlichen Bereichen hierarchische Ordnungsstrukturen, in die auch die Vorgaben über die Art unseres Zusammenlebens eingebettet waren. Aber wir erleben gegenwärtig in unserer globalisierten, digitalisierten und total vernetzten Welt das uns verunsichernde Phänomen, dass dieses hierarchische Ordnungsprinzip nicht mehr geeignet ist, unser Zusammenleben konstruktiv zu steuern.

Wenn äußere Ordnungsstrukturen nicht mehr dazu geeignet sind, den Menschen eine Orientierung zu bieten, um ihr Leben und ihr Zusammenleben menschlich zu gestalten, müssen sie eine innere Ordnungsstruktur entwickeln – und da wären wir wieder beim inneren Kompass. Die Menschen bräuchten also so etwas wie einen inneren Kompass, dessen Nadel in die gleiche Richtung weist: dorthin, wo sie ihr Leben und ihr Zusammenleben im Bewusstsein ihrer Würde als Menschen gestalten.

Wo beginnen?

Niemand kann sein bisher gelebtes Leben ändern, aber jeder Mensch kann sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens dafür entscheiden, fortan anders zu leben als bisher. Etwas bewusster vielleicht, etwas achtsamer gegenüber sich selbst und auch anderen gegenüber. Mehr im Einklang mit sich und der Natur, sich bei allem etwas mehr Zeit zu lassen oder die Nahrungsmittel, die man zu sich nimmt, sorgfältiger auszuwählen. Vieles, was die Ressourcen unseres Planeten betrifft, könnte man hier nennen.

Und: Die Zahl sich ihrer Würde bewussten Menschen ist viel größer, als wir vermuten. Das Problem ist nur, dass man sie in einer immer hektischer und lauter werdenden Welt zunehmend schlechter sieht und hört. Es wird also nötig sein, dass sie sich zeigen, öffentlich Stellung beziehen und aussprechen, was man so nicht länger hinzunehmen bereit ist. Das gilt für alle Bereiche unserer Gesellschaft, aber in besonderer Weise für unser gegenwärtiges Bildungssystem. 

Damit wären wir wieder beim Beginn des Interviews angelangt, wo Sie gemeint haben, alle großen Transformationsprozesse gehen mit einer Art „Bewusstwerdung“ einher, dass etwas so nicht mehr gewollt ist und dass man sich dem jetzt widersetzt.

Ja – und vor allem müssten wir die heranwachsende Generation dabei unterstützen, ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde zu entwickeln, denn: Wer ein solches Bewusstsein seiner eigenen Würde erlangt hat, der ist für hierarchische Ordnungen nicht mehr erreichbar, der ist als Konsument nicht mehr verfügbar und taugt auch nicht mehr als politische Wahlmasse.

Danke für das Gespräch.