Wir können nicht am Ende beginnen!

In etwas weniger als einer Stunde werde ich mit André und Arno Stern, Fred Donaldson, Gerald Hüther, Akiko Stein und Erwin Thoma frühstücken! Anlass ist ein Pressefrühstück, zu dem ich als TAU Redakteurin im Rahmen des 2. Kongresses „Ökologie der Kindheit” eingeladen bin. Ich bin freudig aufgeregt und neugierig, verlasse aber auch eindeutig meine Komfortzone. Ich wiederhole auf dem Weg zum Veranstaltungsort nochmals meine Fragen, die ich mit TAU Kollege Michael am Vortag durchbesprochen habe. Als ich das Foyer betrete, treffe ich Rainer Wisiak vom freigeist, und bald schon ist klar, ich bin in doppelter Mission hier. Für TAU und für den freigeist, bei dem ich als ganz frische Lernwerkstatt-Mama ab dieser Ausgabe regelmäßig mitarbeiten werde. Von Gudrun Totschnig.

Cut! Nun sitze ich also diesen von mir so geschätzten Menschen gegenüber. Mein Herzklopfen wird leiser, als uns André Stern sichtbar fröhlich begrüßt und die Intention des Kongresses zusammenfasst:

Der Anfang ist die Kindheit

André: „Wir können nicht am Ende beginnen, nämlich mit unserer Art und Weise mit der Umwelt umzugehen, wenn wir nicht am Anfang was verändert haben, und der Anfang ist die Kindheit. Alles beginnt mit einer neuen Haltung dem Kind gegenüber.”

Diese neue Haltung bewirke eine sofortige neue Haltung der Welt, eine neue Haltung allem Lebendigen gegenüber. Ich staune über diese klaren Worte und beginne zu begreifen, dass wir als Freilerner-Eltern und die Lernwerkstatt in ihrem fast 30-jährigen Bestehen eigentlich ganz radikal, an der Wurzel, Umweltschutz betreiben! Petra Autherid, Pädagogin und freie Redakteurin für All4family und NEW MOM, macht mit ihrer ersten Frage deutlich, dass dies nicht immer leicht ist.

Petra: „Ich erlebe immer wieder Eltern, die sehr viel Schmerz in sich tragen und Angst haben, im Umgang mit ihren Kindern vieles falsch zu machen, ihnen zu schaden. Obwohl sie sehr liebevolle, reflektierte Menschen sind, ist diese Angst sehr stark da. Da möchte ich Sie mit Ihren unterschiedlichen Zugängen um Hinweise bitten.”

André: „Der Druck, gute Eltern sein zu wollen, ist ein weiterer Druck und eine Erwartung, die uns das Gefühl gibt, so wie du gerade tust und bist, bist du nicht in Ordnung. Das ist das verletzte Kind, dem eines Tages gesagt worden ist: „So wie du bist, bist du nicht gut. Ich habe dich lieb, aber ich hätte dich noch lieber, wenn du (z. B.) mehr schlafen würdest.“ Man muss sich bewusst werden, dass es dieses verletzte Kind gibt. Und dass die Art und Weise, wie wir gesehen worden sind, bestimmt, wie wir uns selbst heute sehen und wie wir unsere Kinder sehen. Die Frage ist also eine sehr wichtige Frage. Ich glaube aber nicht, dass wir hier Tipps und Tricks hören werden, wie wir mit diesem verletzen Kind umgehen sollten. Was sicher ist ist, dass unsere Kinder den sicheren Hafen suchen, und der sichere Hafen ist ein ungeographischer Ort, wo man dir im nonverbalen Bereich der Sprache zu fühlen gibt: ‘So wie du bist, habe ich dich lieb.

Arno Stern ergänzt, dass er trotz der widrigen äußeren Umstände (verfolgt und auf der Flucht) eine außergewöhnliche Geborgenheit als Kind erfahren hat. Sein Vater war wie geführt, „ich würde sagen, von seinem Engel.” Und dann sei ihm der Malort begegnet.

All of us were children, but not all of us had childhood.

Fred Donaldson führt weiter aus:

Fred: „Wir alle waren Kinder, aber nicht alle von uns hatten eine Kindheit. Kinder bringen von Geburt an ein Skill Set mit, das essenziell fürs Leben ist, das wir aber verloren haben. Und der einzige Weg, es wieder zu erlangen, ist, zu den Menschen zu gehen, die es noch haben, und das sind nicht wir.” Fred schmunzelt und ergänzt: „Jesus, Buddha und Gandhi haben uns das schon gesagt, aber wer sind sie schon?”

Wenige Wochen nach dem Kongress wird Fred Donaldson und seine Entdeckung des ursprünglichen Spiels ganz massiv von den Medien angegriffen und ebenso heftig verteidigt. Ich werde immer wieder darauf angesprochen und führe viele Gespräche, im Wohnprojekt, mit meiner Familie, mit meinen TAU- und Freigeist-Kolleg*innen, die ich zu einer Randnotiz (Seite 23) zusammengefasst habe.

Zurück zum Pressegespräch: Zur Zeit gewinne ich immer öfter den Eindruck, die Haltung der Kindheit gegenüber geht medial, gesellschaftlich, gesetzlich genau in die entgegengesetzte Richtung. Meine erste Frage an die Vortragenden lautet daher auch:

Gudrun: „Wie sehen Sie in Ihrem langjährigen Engagement das Spannungsfeld zwischen der Dringlichkeit, dass sich Dinge verändern müssen, und der Langsamkeit von Veränderungsprozessen? Sehen Sie Entwicklungsschritte in die Richtung einer neuen Haltung?”

André: „Ja, es verändert sich sehr viel! In den letzten fünf oder sechs Jahren hat die Wissenschaft endlich Dinge gesagt, die bisher nur die Esoterik gesagt hatte. Und das ist sehr erfreulich, weil wir in einer Welt leben, in der das wissenschaftlich Erwiesene angeblich viel mehr Gewicht hat als alles andere. Es gibt deshalb eine Veränderung, weil es eine Welle von Liebe ist, von  Menschen, die für etwas sind und nicht gegen etwas. Und ich glaube, die dringendste Veränderung, die wir brauchen, passiert in einem (André schnippt mit den Fingern). Die Veränderung der Haltung von „Ich habe dich lieb, aber ich hätte dich lieber, wenn du …” in „Ich habe dich lieb, so wie du bist” kostet ein Zehntel einer Sekunde, und schon ist man auf der anderen Seite. Es ist das erste Mal, dass wir die Möglichkeit hätten, uns als Gesellschaft innerhalb einer Generation zu verändern, denn Kinder, die man nicht verletzt hat, sind keine verletzten Kinder und erfinden eine neue Welt. Innerhalb einer Generation eine so grundlegende Veränderung, das ist, glaube ich, schnell.”

Die Gesellschaft verändern in einer Zehntel-Sekunde?

Ich bin skeptisch und frage nach. 

Gudrun: „Ich bin seit 12 Jahren Mutter, wir haben unsere Kinder zuhause begleitet, und auch nach zwölf Jahren passiert es mir, dass ich meine Kinder verletze. Dass ich sie spüren lasse, ich hätte sie lieber, wenn sie sich anders verhalten würden. Ich bin also seit 12 Jahren dran, und meine Haltungsänderung passiert nicht in einer Sekunde …”

André: „Kinder bemerken und fühlen alles, sie fühlen, auch wenn wir zweifeln. Sie fühlen ganz genau, wenn wir sagen: „Ich hätte dich lieber, wenn du …“ und uns dann aber die Worte im Hals stecken bleiben. Wenn sie sehen, dass wir in unserer alten Haltung ins Stocken geraten, das bemerken sie.”

Gudrun: „Ist das nicht dennoch ein Transformationsprozess, der Zeit braucht?”

André: „Aber die Haltung wurde eine neue, und die Kinder bemerken das, sie fühlen das. Und das ist für sie die Rettung. Es geht nicht darum, dass wir uns retten, tut mir leid!”

Die Unvollkommenheit lieben

Erwin Thoma: „Aber es ist trotzdem so wichtig, dass Sie das Thema Dringlichkeit mit der Zeit verknüpfen. Weil dieser Faktor Zeit ist es ja, der uns so oft hindert, das Nötige zu tun. Denn es gibt ja die Unvollkommenheit, die jeder hat. Und wenn wir ungeduldig sind, setzen wir die Vollkommenheit voraus. Und das fatale Ergebnis ist, dass, wenn wir immer diese Vollkommenheit beanspruchen, wir uns sagen: „Das schaffe ich sowieso nicht, ich mache gar nichts.“ Und deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass wir die Unvollkommenheit lieben und sagen: „Ich verletze mein Kind nur noch halb so viel, wie ich verletzt worden bin. Das ist doch toll, da ich einen Fortschritt schaffe!“ Und nicht: „Was bin ich für ein Versager, jetzt verletze ich es trotzdem.“ Sondern: „Ich bin am guten Weg, ich liebe meinen guten Weg.“ Und da ist der Faktor Zeit so wichtig. Denn wenn man die Menschen losschickt mit „Und du rettest jetzt die Welt, sonst bist du nichts wert, das ist doch fürchterlich. Diese Ansprüche, alles muss morgen besser sein, ich wehre mich gegen die Ansprüche, denn die Ansprüche sind es ja auch, die dann das Kind >> 

verletzen, die alle verletzen. Wenn ich am Abend, wenn ich zu Bett gehe, sagen kann: „Heute habe ich es so gut gemacht, wie ich konnte“ und über die drei Blödheiten, die dabei waren, lache ich noch – dann war es ein guter Tag. Akzeptieren, dass Dinge Zeit brauchen, und akzeptieren, dass ich nicht vollkommen bin. Und dass mein Kind nicht vollkommen ist.”

André: „Und wenn man einem Kind sagt: „Ich habe dich lieb, weil du so bist, wie du bist …“

Erwin: „… sagt man es auch zu sich selbst …”

André: „… und zu allen Kindern und dem verletzten Kind in sich selbst. Und das ist wahrscheinlich die erste Gelegenheit für dieses Kind in uns, die erste aller Gelegenheiten überhaupt, dass das Kind in uns zu hören bekommt: „Ich habe dich lieb, weil du so bist, wie du bist.“ 

Das Unvernünftig-Sein ermöglichen, uns erinnern, dass wir vergessen haben und der Zeit unseres Herzens folgen

Arno: „Nun haben Sie aber sehr viel von Kindern gesprochen, ich tue das überhaupt nicht. Für mich gibt es keine Trennung, hier sind Kinder einerseits und hier sind Erwachsene. Was auf etwas hinweist, was man früher behauptet hat in vielen Büchern: dass die Erziehung aus Kindern erst Menschen werden lässt. Wie kann man sich so etwas ausgedacht haben? Solch eine Vorstellung, als ob Kinder noch nicht erfolgte Menschen seien, das würden erst wir aus ihnen machen. Das sind doch Begriffe, die unannehmbar sind. Aber im Geiste von vielen Menschen sind sie noch gegenwärtig. Es ist auch behauptet worden, Kinder seien fantasiereich, und dann verlieren sie diese Fähigkeit zugunsten des Vernünftig-Seins, das sind alles falsche Begriffe. Das muss man überwinden. Ein Kind ist weder begabt noch unbegabt, ein Erwachsener ist auch nicht unbegabt. Man redet Erwachsenen ein, sie haben eine Fähigkeit verloren, weil sie vernünftig geworden sind. Das stimmt überhaupt nicht. Im Malort ist eine Fähigkeit ermöglicht, nämlich das Unvernünftig-Sein. Das ist aber etwas sehr Wichtiges, das im Allgemeinen nicht verwendbar ist im Alltag. Wenn man ihnen sagt, sie seien unvernünftig, dann ist das doch eher ein Tadel. Aber im Malspiel ist im Gegenteil ein Ausgleich geschaffen worden zwischen dem aus der Vernunft Entstandenen und etwas anderem, das aus der organischen Erinnerung kommt und der Vernunft entgeht, aber ein menschliches Bedürfnis ist. Und das ist wieder belebt. Und da gibt es keinen Unterschied zwischen großen und noch nicht groß gewordenen Menschen.”

Akiko Stein: „Ich bringe allen kleinen und großen Kindern die Botschaft, dass wir lebendiges Gedächtnis sind. Dass wir uns fühlen wie ein Tropfen im Ozean, dass aber in jedem von uns eigentlich der ganze Ozean ist, das Ur-Bewusstsein. Unser Leben, die Schöpfung unterliegt höheren Gesetzen, dem Gesetz der Resonanz und Synchronizität, und diese Gesetze sind kraftvoller und fähiger und höher als alle Regelwerke und Methoden, die wir erschaffen haben. Und sobald wir, jede*r von uns, vergessen haben, dass wir vergessen haben, dass das schon in uns ist, hecheln wir nur auf der Oberfläche herum und sind in der Mangelhaltung, dass uns noch etwas fehlt, und fühlen uns als etwas Getrenntes. Wir müssten uns nur daran erinnern, dass wir vergessen haben.”

Fred: „Ich schlage vor, dass es zwei unterschiedliche Zeitqualitäten im Zusammenhang mit Veränderung gibt. Die eine wird mit der Uhr gemessen, die andere wird Herzzeit genannt. Wenn wir nach der Herzzeit gehen, gibt es gar keine Zeit, da verändert sich alles sehr schnell. Wenn ich mit Gang-Mitgliedern arbeite oder mit Krebspatienten im Endstadium, ist für sie Zeit Leben und Tod. Wenn die Zeit mit dem Herzen gemessen wird, dann braucht es keine Zeit, da änderst du dich jetzt. Ich habe 18-jährige Gangmitglieder gesehen, die einfach ihre Waffe innerhalb einer Stunde abgelegt haben. Wenn wir beginnen, die Zeit auf diese zwei unterschiedlichen Arten zu messen, kommen wir hinter das „Transformation-braucht-Zeit-Thema”. Gangmitglieder, Straßenkinder, Krebspatienten wollen nicht hören, Veränderung braucht Zeit. Es zählt nur das Jetzt. Im (ursprünglichen) Spielen findest du heraus, dass das magischerweise auch funktioniert.”

Gudrun: „Wir sind hier auf dem Kongress doch auch in einer geschützten Umgebung, in einer Art Blase … Wie kommt die Haltung aus dieser Blase raus und wird zu einer Selbstverständlichkeit für alle Menschen?”

André: „Weil wir nichts zu verkaufen haben. Ich bin einverstanden, es ist eine Art Blase. Wir können die Menschen nicht dazu zwingen – „Verändere dich, das ist gut für dich!” Das bedeutet ja nochmals:  „So wie du bist, bist du nicht gut.“ Wir können nur beobachten, was wir beobachten. Die Blase wird immer größer, sie hört nicht auf zu wachsen. Und löst möglicherweise ein Unbehagen aus, und in diesem Unbehagen wurzelt das Neue. Dann ist es wirklich Herzzeit, und die wird nicht per Sekunde gerechnet. Und ich glaube, das geht jetzt immer schneller. Blase mit Schneeballeffekt …”

Resonanz und Punktmutationen

Akiko: „Ich komme wieder auf das Gesetz der Resonanz zurück. Ein kleiner Stein, der ins Wasser fällt, breitet sich aus, in alle Dimensionen. Und wenn wir uns der Fähigkeiten bewusst sind und werden, dann müssen wir uns nicht fürchten, dass wir es zu wenigen Menschen erzählt haben, darum geht es nicht. Der Stein selbst soll klar und ausgerichtet sein, die äußerliche Größe spielt gar keine Rolle. Auf die Reinheit der Botschaft kommt es an, die auch Resonanz hervorruft.”

André: „Danke! Das ist auch so entspannend! Es wird von uns so sehr erwartet, dass wir uns abmühen. Dass Veränderung ein Prozess ist, der nicht nur lange ist, er ist deshalb so lange, weil er so schwer und schmerzhaft ist. Gerald (Hüther, der erst gegen Ende dazu kommt) sagt: „Alle Systeme des Lebendigen überleben erst, wenn sie fähig sind, ganz wenig Energie zu verwenden. Je weniger Energie sie verbrauchen, desto länger und besser überleben die Systeme.“ Es hat noch nie eine Gesellschaft gegeben, die so unglaublich viel Energie verbraucht hat, weil wir uns alle so abmühen. Aber ich muss gar nichts tun, ich muss nur diese Resonanz stattfinden lassen. Und plötzlich sind wir sehr viel sparsamer, was die eigene Energie betrifft. Und das könnte einiges verändern. Denn wenn du ganz viel Energie in deine eigene Veränderung investierst, bist du am Ende am Ende. Und es hat sich nichts verändert.”

Erwin: „Und dieser Drang, sich selbst zu verändern, der kommt aus dem Kopf. Die Frage: „Aber es geht so langsam, schau dich doch um, welche Probleme wir haben, ich bin noch nicht hundertprozentig, ich bin unvollkommen …”, das ist immer der Kopf. Der Mensch hat immer, bei jeder Entscheidung, so klein sie auch ist, die Möglichkeit, ins Herz zu spüren oder in den Kopf zu gehen. Und ich habe die >> ganz einfache Lebenserfahrung, immer, wenn ich mit dem Herzen entschieden habe, bin ich richtig gelegen. Und wenn ich dem Kopf gefolgt bin, waren es die Verirrungen. Wenn ich aber, wie Akiko sagt, in Resonanz bin, in meinem Herzen bin, dann bin ich stärker wie … Das kleine Flöckchen, das eine Lawine auslöst, ist von der Kraft her bedeutungslos, und löst dennoch die größte Kraft aus, die es auf Erden gibt. Ich würde so etwas Punktmutation nennen, und wir stehen vor einer Punktmutation. Ich bin in den Bergen aufgewachsen, so richtig traditionell und katholisch und alles, und in der Schule haben wir jeden Tag unser Gebet gesprochen und die Lehrerin hat gesagt, wir müssen beten, damit der Kommunismus beendet wird. Ich habe mir gedacht, was für ein Unsinn, die lässt uns beten und erklärt gleichzeitig, dass es nichts nutzt, weil er sowieso immer bleibt. Und erinnern wir uns dran, wie dieser für unverrückbar gehaltene Block zusammengebrochen ist. Das ist eine Punktmutation. Und der ist nicht zusammengebrochen, weil einer aufgestanden ist und gesagt hat, ich muss den Kommunismus besiegen, der ist zusammengebrochen, weil plötzlich die kritische Masse die Haltung geändert hat. 

Also wenn Sie fragen: „Was kann ich tun?“ – Bei dir selber, das ist ja die Frohbotschaft, es genügt bei dir selber. Es genügt, das ist genug, völlig genug.”

Gudrun: „Die Familien, die ihre Kinder ohne Bildungseinrichtung und Unterricht zuhause begleiten, im täglichen Bemühen die neue Haltung zu leben, werden in Österreich massiv behindert. Heißt es jetzt nicht doch einen Schritt weiter zu gehen, es noch mehr in die Öffentlichkeit zu tragen, oder reicht es wirklich, dass wir als Familie unser Bestes geben?”

Erwin, André: „Ja! Ja! Ja!”

Erwin: „Wer ein Kind gut ins Leben begleitet, der muss doch nicht auch noch die Welt verändern. Der verändert sie eh.”

André: „Nochmals Gerald Hüther: Im Ostblock, wo er groß geworden ist, haben die Leute immer gedacht, je weniger ich denke, spreche und bin, umso mehr Chancen habe ich, meinen Trabant am Ende der zehn Jahre zu bekommen. Und als Gerald später, ich glaube 1987, wieder eingeladen worden ist, ist er zurückgekommen und hat zu seiner Frau gesagt: „Die Mauer fällt.“ Und sie hat gefragt: „Wieso weißt du das?“ „Weil die Leute dort jetzt sagen: ‚Ist mir doch egal, wenn ich keinen Trabant habe, ist mir doch wurscht, welchen Platz meine Kinder in der Uni bekommen.‘ Und wenn du die Menschen so weit gebracht hast, als System, dass ihnen alles egal ist, dann hast du auch die Kontrolle über sie verloren. Du kannst sie nicht mehr fassen, denn da, wo du sie gefasst hast, ist nichts mehr, weil ihnen das nichts mehr bedeutet. 

(Gerald Hüther betritt den Raum). Ich habe gerade von dir gesprochen.”

Kinder als Ent-Wicklungs-Helfer für Erwachsene

Gerald Hüther: „Ich entschuldige mich ganz ehrlich, ich habe verschlafen.

Vielleicht darf ich das kurz sagen. Wir haben in der Weltgeschichte eine Situation, wo nicht die Erwachsenen den Kindern helfen, sich in der Welt so zurecht zu finden, dass die Erde nicht untergeht, sondern wo die Kinder den Erwachsenen helfen. Also praktisch eine völlig neue Situation – die Kinder als Ent-Wicklungs-Helfer für Erwachsene. Das sind nicht nur Greta und die Fridays-for-Future-Demonstrationen, die so beeindruckend sind. Ich will mal kurz am Rande erzählen, wie beeindruckend das ist: Ich kenne den Chef einer großen deutschen Stiftung, und der hat gesagt: „Wir haben in den letzten 20 Jahren ungefähr 700 Millionen Euro ausgegeben für Förderungsprogramme, die dazu dienen sollten, in der Bevölkerung das Bewusstsein zu schärfen für nachhaltiges Leben, für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur. 700 Millionen, und erreicht haben wir fast nichts. Jetzt kommt diese kleine Greta und macht das in einem halben Jahr, was wir in 20 Jahren mit 700 Millionen nicht geschafft haben. In einem halben Jahr, kostenlos!“ Das war, was ihn am meisten entsetzte. Das heißt, da ist etwas im Gange, was wir uns wahrscheinlich alle noch nicht so richtig klar machen. Das ist nicht nur die Fridays-for-Future-Bewegung, sondern es gibt offenbar unendlich viele Familien, wo plötzlich die 12jährige Tochter am Mittagstisch sitzt und sagt: „Ich esse kein Fleisch.“ Oder wo die jetzt den Urlaub planen für das nächste Jahr und wo dann der Sohn sagt: „Könnt ihr schon machen, aber fliegen mache ich nicht. Ist zu viel CO₂.“ Das ist ein Wahnsinn. Da müssen die Eltern aufwachen. Und das Aufwachen fällt den Eltern deshalb leichter, weil sie sich von ihren Kindern leichter berühren lassen. Wenn wir ein Förderprogramm von staatlicher Seite zum Aufwachen von Erwachsenen über die Eltern stülpen würden, würden die nicht aufwachen. Wenn aber das eigene Kind sagt: „Das ist verrückt, was wir da machen, ich möchte das nicht mehr“, dann passiert was. Und deshalb bin ich eigentlich sehr froh, dass André schon seit vielen Jahren dafür arbeitet, dass mit dieser Stiftung über die Arbeit mit den Eltern Bedingungen geschaffen werden, wo die Kinder mutiger werden, freier werden, sich nicht so sehr verwickeln und dann eben auch eher als Ent-Wicklungs-Helfer für die verwickelten Erwachsenen eintreten können.”

Die fürs Gespräch angesetzte Stunde ist vorbei. Und in Herzzeit gemessen? Ich muss schmunzeln, denn die Mittagstischszene, die Gerald beschrieben hat, hatten wir erst vor Kurzem mit unserer 12-jährigen Tochter! Bisher sah ich in meinen Kindern immer meine ZEN Meister*innen. Aber das Bild, dass sie mir helfen, meine Verwicklungen Schicht für Schicht zu ent-wickeln, gefällt mir. Auch dieses Presse-Gespräch und der ganze Kongress an sich hat Entwicklungs-Hilfe an mir geleistet. Oder wurde ich vielleicht nur an Vergessenes erinnert?