Konflikte als Wachstums-Chance

In einem Interview mit Theo Feldner, dem pädagogischen Leiter der Lernwerkstatt, spricht Maria Altmann-Haidegger über den Umgang mit Konflikten in der Lernwerkstatt.

Wie wird in der Lernwerkstatt mit Konflikten umgegangen?

Die Konfliktbewältigung spielt in der Lernwerkstatt eine wichtige Rolle. Die Begleiter beenden die Konflikte nicht einfach – außer es sind „Rot-Situationen“ – wenn sich zwei tögeln, also raufen – dann geht der Erwachsene dazwischen und sagt „Stop“! Gar nix anderes! Oder er muss sie festhalten, damit sie aufhören, einander weh zu tun. Zuerst wird einmal für Ruhe und Sicherheit gesorgt und dazu braucht es gar nicht viele Worte. Dann wird dafür gesorgt, dass beide Seiten gehört werden. Da ist es wieder die Aufgabe der Beteiligten, den Konflikt zu lösen. Und die Erwachsenen sind die Konfliktlösungsbegleiter – wir schauen, dass die Kinder das lösen.

Wie kann der Erwachsene die Konfliktlösung begleiten?

Wenn es irgendwo „Brösel“ gibt – es gibt so Hotspots wie die Lego-Ecke oder den Außenbereich – wenn jemand geschubst wird, geht der Erwachsene hin und fragt, was los ist und oft ist dann die Reaktion „Nein, gar nichts“ und die Kinder wollen weg und dann sagt der Erwachsene: „Nein, das müssen wir besprechen!“ Oder die Kinder sagen: „Misch dich nicht ein!“ – Und der Erwachsene: „Das ist mein Job, mich da einzumischen! Da ist ein Konflikt und was braucht es, damit es wieder passt?“ Da geht es darum, sie nicht auszulassen, sondern dranzubleiben und jeden zu Wort kommen zu lassen, dass sich jeder artikulieren kann und auch gehört wird, dass zum Beispiel nicht alle durcheinanderreden. Ich begleite, indem ich auch wiederhole, was jeder sagt. Dann frage ich, was jeder braucht, damit es wieder passt. Da ist dann zum Beispiel die Antwort: „Ich möchte, dass er es nicht mehr macht!“ – „Ich mach´s nicht mehr!“ – „Okay!“

Wenn man einen Konflikt ernst nimmt, gibt es oft ganz schnelle Lösungen.

Es gibt schon so Fragestellungen wie „Was braucht es, damit es wieder passt?“ Manchmal ist es auch wichtig, dass man tiefer geht und fragt: „Woher kommt eigentlich dieser Konflikt? Ihr zwei habt oft Konflikte! Mir fällt auf, dass es öfters zwischen euch so funkt!“ Dann kommen oft ganz alte Geschichten daher, das ist auch spannend.

Welche Rolle spielt hier die Befindlichkeit der Kinder?

Wenn es zum Beispiel einem Kind nicht gut geht, es innerlich unrund ist, wenn es zuhause kriselt, oder was weiß ich, dann haben Kinder oft viel mehr Konflikte und ecken an und wollen auch oft weinen – das kommt auch vor – und suchen Gründe dafür. Wenn eine Spannung da ist, ein Unwohlsein, dann sind die Kinder oft auch dünnhäutig  – wenn sie so herumgehen und es ist ein Schmerz da von irgendwo – kommt es viel leichter zu Konflikten. Wenn es Kindern gut geht, sie etwas tun, was ihnen voll taugt – Tischtennisspielen, Floßbauen, … – dann sind sie viel stabiler.

Wie schauen die Konflikte in der Sekundaria aus?

Da ist es nicht so körperlich. In der Sekundaria erlebe ich es auch oft bei älteren Jugendlichen, dass sie sehr kompetent sind, was Konflikte angeht.  

Da gibt es öfters so Konflikte, wie dass jemand bei einer Gruppe dabei sein will und dann abgewiesen wird und schlecht damit umgehen kann.  Dann wird das als Mobbing ausgelegt.

Das Wort Mobbing ist ja grad so eine Modeerscheinung. 

Wenn einer dem anderen was wegnimmt, findet der, er wird gemobbt. Aber Mobbing bedeutet immer, dass mehrere auf einen losgehen. Wenn sich ein Rudel auf einen einschießt, dann ist das Mobbing – und das über einen längeren Zeitraum. Im Moment hört man ganz oft „Ich werde gemobbt“ oder von den Eltern „Mein Kind wird gemobbt“.

Wenn ein Kind heimkommt und sagt: „Ich werde gemobbt!“ – Wie sollten sich dann die Eltern verhalten?

Dass sie sich das mal anhören. Dass sie fragen: „Wer? Wie oft? Was ist da passiert?“ Jeder kennt ja sein Kind. Man sollte sein Kind ernst nehmen und auch nachfragen. Und dann den Begleiter anrufen und sich dessen Sicht dazuholen. Auf jeden Fall die Situation ernst nehmen. Aber man muss nicht jede Aussage des Kindes eins zu eins nehmen, dass es auch genauso ist. Die Kinder sagen ihre subjektive Wahrheit – und dann würde ich mal nachfragen. 

Wenn Eltern anrufen, frage ich auch nach und lasse mir das genau schildern. Wenn sie sagen „Mein Kind wird gemobbt!“ sage ich dann oft „Das ist aber nicht Mobbing meiner Ansicht nach!“ Und dann kann man sich anschauen: Was ist es denn? Und ich kenne die Beteiligten ja oft schon lange und dann kann man auch auseinanderdröseln, worum es da geht. Wenn es tatsächlich um Mobbing geht, ist es immer wichtig, die Eltern dazuzuholen. Die Rolle der Erwachsenen ist da ganz wichtig. Wenn die Eltern voll drauf einsteigen und mitleiden, ist es oft auch für das Kind schwer, herauszukommen. >>

Aber es gibt kein Rezept zum Umgang mit Konflikten oder Mobbing.

Heutzutage will jeder ein Rezept. Wir leben in der Zeit der Rezepte. Dann will man die „Gewaltfreie Kommunikation“ als Rezept machen oder „Die neue Autorität“! Als Rosenberg die gewaltfreie Kommunikation entwickelt hat, war es aus dem Leben heraus, aus einem Interesse heraus und nicht als Rezept gedacht. Dann wird es eine Methode, das wird dann gelehrt und dann macht man bei Konflikten „Gewaltfreie Kommunikation“. Wenn man zum Beispiel die Bücher von Rebeca Wild liest, da sind keine Rezepte. Diese Bücher wie „Erziehung zum Sein“ oder „Mit Kindern leben lernen“ vermitteln eine Haltung oder ein Bewusstsein, wie ich mit einer Situation umgehen möchte, aber nicht Schritt eins, Schritt zwei, Schritt drei, …

Jeder Konflikt ist anders. Auch von den Beteiligten. Und dann gehe ich in der Situation auf das ein ‒ intuitiv – oder manchmal auch grantig. Wie auch immer. Aber ein Rezept funktioniert nicht. Für Konflikte gibt es keine Rezepte, denn jeder Konflikt ist einzigartig. Wenn ich bei einem Konflikt aufmerksam und präsent bin, dann ist das eine gewaltige Kraft. 

Wenn ich zu einem Konflikt geholt werde, kann ich nicht alles sehen, da muss ich mich erst erkundigen und nacharbeiten. Wenn ich es aber schon vorher gehört habe – und ich kenne ja schon von den Kindern die Chemie  – dann gehe ich näher hin und nehme wahr, was passiert. Wenn ich wachsam da bin, kann ich den Konflikt begleiten durch meine Präsenz. Dann entstehen auch Konflikte und da entsteht manchmal auch eine Lust an Konflikten. Konflikte sind in unserer Gesellschaft eher negativ besetzt. Das wird dann als anstrengend erlebt. Aber man kann auch sagen: Ja, was ist los? Geh´n wir´s an! Da gibt es einen Konflikt, daran kann man wachsen. Das zu begleiten, kann voll interessant sein. Es kommt auf die Einstellung an. Ich kann mir die Kompetenzen aneignen, damit umzugehen. Dass ich nicht das arme Opfer bin, zum Beispiel. Dass ich mich auch wehren kann. Dass ich mir Hilfe holen kann. Dass ich schlagfertig werde. Dass ich die Angst vor Konflikten verliere. Da sind ganz viele Sachen drinnen, die ich lerne. Dass ein Konflikt angstbesetzt oder bedrohlich ist oder als schlecht bewertet wird, so soll es nicht sein. Wenn man einen Konflikt hat, kommt es zu einer Lösung und das macht die Beziehung stärker und erweitert die Handlungsmöglichkeiten und macht freier. Wenn jemand kein Konfliktmanagement aufgebaut hat, spürt man oft – das geht aber jetzt schnell in die Aggression, da ist ganz wenig Raum. Und bei manchen ist sehr viel Raum. Manche übernehmen dann auch die Rolle des Schlichters. Wenn es einen Freund betrifft und der ist ein Häferl, findet oft der andere sofort die richtigen Worte um zu deeskalieren. 

Wir wollen hier eine entspannte Umgebung, da gibt es Regeln und Schutz und präsente Erwachsene. Da kann es durchaus auch Konflikte geben. Und manche schauen dann auch zu und lernen daraus.

Gibt es Situationen, wo du persönlich einsteigst?

Ich halte es ganz schwer aus, wenn es eine Gruppe gibt, die auf einen oder zwei losgeht und Spaß dran hat. Wenn sie das Gewand kritisieren oder das Aussehen – wenn sie ganz genau wissen, wie kann ich den abwerten. Da bin ich dann schnell. Da habe ich schon gesagt, allein traust dich eh nicht, aber mit den anderen zusammen. Da merk ich, dass mich was triggert und das ist nicht gut. Da muss ich noch lernen. Man soll es unterbinden, aber nicht im Zorn und bei mir ist Zorn da. Da sollte man es ruhen lassen und dann in einer anderen Emotion ansprechen. Deswegen ist auch die Reflexion so wichtig – dass ich im Nachhinein spüre, das hat nicht gepasst. Wie kann ich es anders angehen. Dass es nicht um die Person geht, sondern um das Verhalten. Am nächsten Tag, in einer anderen Emotion kann man es dann besser ansprechen. 

Werden solche Situationen auch im Team besprochen?

Ja, klar, das ist viel Teamarbeit. Diese Auseinandersetzung auf der Selbstreflexionsebene würde ich mir noch viel mehr wünschen. Weil es allen so geht, dass man bei manchen Kindern aus der Emotion heraus reagiert und dann ist man nicht mehr handlungsfähig, wenn man zu sehr involviert ist. Da würde ich im Team, wenn Konflikte besprochen werden, gerne nicht nur den Konflikthergang und die Konsequenzen besprechen, sondern noch mehr Zeit dafür haben zu besprechen, was so eine Situation mit mir macht. 

Das Wichtigste beim Konflikt ist der Kontakt. Dass man den Kontakt aufrecht hält und die Botschaft hat, das geht nicht, du kannst das nicht machen, aber du bist okay. Dann geht es viel leichter. Und du lässt die Leute leben, weißt du? Und das ist etwas, das mich interessiert. Dass man Konflikte als Wachstumschancen für einen selber sieht, und damit umzugehen eine große Freiheit birgt. 

Das Thema des Freigeist ist Herzensbildung. Welche Rolle spielt die Herzensbildung in der Lernwerkstatt?

Für mich ist es so, dass der Mensch sowieso herzensgebildet auf die Welt kommt und das dann aberzogen kriegt oder vergisst, und dass man es deshalb dann wieder bilden muss oder so, dass er sich wieder erinnert.

Was heißt das, der Mensch kommt herzensgebildet auf die Welt?

Das hat was mit Liebe zu tun. Ich meine, der Begriff „Liebe“ ist so kontaminiert, da kann man so viel Verschiedenes drunter verstehen. Für mich ist es Realität, dass man aus dieser Ebene kommt und dass die Intelligenz und die Liebe im Herzen sind und nicht im Kopf. Der Kopf, der Verstand, das Gehirn sind da, um das zu übersetzen. Umso wichtiger sind in dieser Welt Worte – mit einem großen Wortschatz kann ich mehr oder genauer übersetzen. 

Für mich ist auch Herzensbildung, dass ich in der Nichtdirektivität bleiben kann und das Kind nicht von außen mit etwas „befüllen muss“, dass ich es aber auch in seiner Freiheit nicht verlasse. Und dass ich Präsenz zeigen kann. Dass ich ihnen möglichst viel von der Welt zeigen kann, was sie interessiert – verschiedenste Sachen. Und vielleicht kommen dann die Kinder drauf, was sie wirklich interessiert im Leben. Dass sie wissen, mich interessiert Musik total oder Theaterspielen oder Floßbauen oder Literatur oder Technik oder alles mit Strom oder  Mathematik, Tiere, Medizin – dass man  möglichst viel von der Welt kennenlernt, dann kann man auswählen. Seinen Interessen nachgehen zu können, ist Herzensbildung für mich. Die Kinder zu respektieren als gleichwürdige Wesen – sie sind ein bissl jünger, aber das sind ganz fertige Menschen.

Auch bei der philosophischen Betrachtung der Welt, wie sich mit großen Fragen zu beschäftigen: Was ist nach dem Tod? Was könnte der Sinn des Lebens sein – für die Jugendlichen ist das sehr interessant – oder bei Mathematik, wenn etwas gegen unendlich geht, was ist das Unendliche? Was ist außerhalb des Weltalls, wenn es sich ausdehnt?… Da bin ich jetzt immer mehr bereit, dass ich erzähle, wie ich zurzeit die Welt sehe oder woran ich glaube. Über Schutzengel oder Seelenführer oder dass es Wesen gibt, die mich begleiten und wenn ich was brauche, kann ich sie fragen – zum Beispiel. Dass ich von dem, was ich glaube, auch erzähle – ohne jemanden davon überzeugen zu wollen, das ist mir komplett fremd – deshalb habe ich mich da bisher zurückgehalten. Aber ich denke, Kinder haben ein Recht, wenn sie Erwachsene fragen, dass sie auch erzählen. Wenn ich gefragt werde: Glaubst du an ein Leben nach dem Tod, sage ich: na sicher. Wenn ich gefragt werde, glaubst du an die Seele – na klar. Und das war´s dann auch schon – oder manche wollen dann auch noch mehr reden oder so. Ich muss da meine Einstellung nicht verstecken – weil ich ja auch nicht die Intention habe, irgendjemanden zu überzeugen. Wenn mich jemand fragt, kann ich Antwort geben. Das gehört auch dazu zum Authentischsein für mich. Da geht es nicht um einen Unterricht, sondern  um das Ernstnehmen dessen, was da ist, das zu würdigen einfach – das ist auch eine Haltungsfrage. Für die Jugendlichen kann man auch Angebote machen diesbezüglich und Impulse geben, wo sie dann reden und philosophieren können. Dass man die Umgebung so gestaltet – und der Erwachsene ist auch Teil der Umgebung – dass es Impulse gibt in diese Richtung.