Alle Kinder sind verschieden

Als Remo Largo während seiner Schulzeit beim Turnen ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt und danach sechs Wochen lang nur auf dem Rücken liegen konnte, las er „Krieg und Frieden“ und fragte sich, woher die großen russischen Autoren so viel über den Menschen wüssten. Die Frage, was der Mensch sei, beschäftigt ihn bis heute. Er schwärmt über die „Brüder Karamasow“: „Das Buch ist unglaublich. Die kommen alle aus der gleichen Familie, aber man spürt, die sind von Grund auf verschieden. Dostojewski hat die Unterschiedlichkeit der Menschen begriffen. Ja, der ist jetzt mal so, und sein Bruder, der ist anders und der dritte nochmals anders. Wenn wir heute sagen, es ist alles möglich in der Entwicklung der Person, entsteht daraus enormer Druck. Ich habe in all den Jahren mit den Kindern aber erlebt, dass Dostojewski recht hat. Man kann sie nicht beliebig formen.“ 

Nach abgeschlossenem Medizinstudium arbeitete Largo am Kinderspital in Zürich und wollte ursprünglich Kinderchirurg werden. Durch eine schwere Krankheit verlor er das Gehör auf einem Ohr, danach war ihm noch lange schwindelig, sodass an eine Karriere am OP-Tisch nicht mehr zu denken war. So kam es, dass ihm eine Stelle in der Abteilung „Wachstum und Entwicklung“ des Kinderspitals angeboten wurde, wo er über 30 Jahre lang blieb und sein eigener Chef wurde. Die in dieser Abteilung erhobenen Daten aus riesigen Langzeitstudien über die Entwicklung von Kindern zu Erwachsenen bestätigten ihm wissenschaftlich, was er schon immer ahnte: Die Menschen sind alle verschieden. Das Wissen dieser vielbeachteten Langzeitstudien bildet den Grundstock von Largos Büchern „Babyjahre“, „Kinderjahre“ und „Jugendjahre“: Wie lernen Kinder laufen? Wann fangen sie an zu sprechen? Wie verändern sich Schlafbedürfnisse? Wie viel Geborgenheit brauchen sie? Auf welche Weise entwickeln sich Sozialverhalten und Selbstgefühl? Mit Statistiken und Schaubildern kann Largo zu jedem Detail der kindlichen Entwicklung Angaben machen:

Bereits Neugeborene haben eine Vergangenheit von etwa neun Monaten und hatten während der Schwangerschaft genügend Zeit, verschieden zu werden. Kinder unterscheiden sich bereits bei der Geburt sehr, nicht nur im Aussehen oder in der Größe, sondern etwa auch in Motorik, Sozialverhalten und Temperament, und in den folgenden 15 bis 20 Jahren werden sie immer verschiedener. Am Beispiel des Essverhaltens zeigt sich, dass etwa ein Kleinkind mit 12 Monaten 600 g/Tag isst, ein anderes 1400 g, also mehr als doppelt so viel! Die Menge der aufgenommenen Nahrung sollte das Kind bestimmen, denn nur dieses weiß, wie viel es braucht. Andere Entscheidungen müssten hingegen die Eltern übernehmen: Etwa WAS getrunken und gegessen wird. Remo Largo machte als Kinderarzt jedoch die Erfahrung, dass es häufig umgekehrt läuft: Das heißt, das Kind bestimmt was und die Eltern wie viel. Ein weiteres Beispiel  sind Verhaltensstörungen: Jedes dritte Kinder im Vorschulalter leidet unter Schlafstörungen. In den meisten Fällen ist der Grund dafür eine Fehleinschätzung des Schlafbedarfes: Viele Eltern nehmen an, dass das Kind mehr Schlaf braucht, als es wirklich schlafen kann. Der Schlafbedarf von Kindern ist hingegen sehr variabel, wie ein Vergleich von einjährigen Mädchen zeigt: Eines schläft 12 Stunden, was wahrscheinlich viele Eltern erwarten, ein anderes gar 14 Stunden. Es gibt allerdings auch Kinder, die nur 9 bis 10 Stunden Nachtschlaf benötigen. Werden diese Kinder länger im Bett belassen, führt das dazu, dass sie abends nicht einschlafen können, nachts oder morgens zu früh aufwachen oder alles zusammen. Wie viel ein Kind schlafen kann, hängt vom Kind ab, daran können die Eltern nichts ändern.

Starke Unterschiede sind auch in der Entwicklung der Motorik zu beobachten. Die meisten Kinder machen mit 12 bis 14 Monaten ihre ersten Schritte, andere schon mit zehn. Remo Largo berichtete in einem Vortrag von extremen Abweichungen: Während manche Kinder erst mit 20 oder 22 Monaten ihre ersten Schritte tun, war er in den USA einem kleinen Buben begegnet, der bereits im Alter von einem knappen halben Jahr frei laufen konnte! „Wenn das schon so anfängt, können Sie nicht annehmen, dass es dann im Schulalter anders ist“. In seinen Langzeitstudien am Kinderspital in Zürich wurde die Zeit gemessen, die Kinder im Alter von 6 bis 20 Jahren benötigen, um einen einfachen Bewegungsablauf auszuführen. Wenig erstaunlich ist dabei, dass sie mit zunehmendem Alter immer schneller werden; eine Entwicklung, die allerdings mit Erreichen der Adoleszenz abgeschlossen ist. Mädchen sind dabei tendenziell ein klein wenig geschickter. Auffällig ist allerdings, dass Siebenjährige für die gleiche Übung zwischen weniger als zehn und mehr als 25 Sekunden benötigten, was einem Faktor 3 entspricht. Die schnellsten Kinder waren dabei mit 7 Jahren ebenso schnell wie andere mit 16. Remo Largo betont, dass es sich dabei ausschließlich um normale, gesunde Kindern handelt. „Die Kinder, die da so langsam sind, die gefallen uns nicht, die schicken wir in irgendwelche Therapien. Dieser Mechanismus ist jetzt sehr zum Nachteil der Kinder in die Irre gelaufen. Denn im Grunde genommen sagen wir, diese Kinder passen uns nicht, die müssen besser werden. Diese Problematik zieht sich durch alle Bereiche in der Schule wie in der Familie. Wir haben zu viele Kinder, die unruhig sind, und die schicken wir zum Teil in eine Therapie oder verfüttern ihnen häufig Ritalin. Das sind nicht immer die Kinderärzte, das wird sehr häufig von den Eltern verlangt und auch zunehmend von den Lehrern mit der Androhung, ‚wenn das Kind kein Ritalin bekommt, dann kann ich es nicht in der Klasse behalten‘.“

In einer anderen Untersuchung wurden die Aktivitäten von Kindern anhand von Aufzeichnungen über die Anzahl der Arm- und Beinbewegungen gemessen. Dabei >> fällt auf, dass die Kinder generell immer aktiver werden und im Alter von sieben bis neun Jahren den Gipfel der Aktivität erreichen, die danach wieder abnimmt. Statistisch signifikant ist, dass sich Buben im Allgemeinen aktiver zeigen als Mädchen. Bedenkt man, dass gerade im Alter der höchsten Aktivität von den Kindern in der Schule stundenlanges Stillsitzen verlangt wird, lassen sich die Probleme, die besonders Buben damit haben, gut nachvollziehen. „Je mehr man die Kinder in ihrem Bewegungsdrang einschränkt, umso größer werden die Probleme. Das kann man mit Ritalin bekämpfen, ob das sinnvoll ist, muss ich sehr bezweifeln,“ meint dazu der Schweizer Kinderarzt. 

„Die andere Möglichkeit wäre, den Kindern den Freiraum zu geben, dass sie sich ausreichend bewegen können. Dazu sind wir eigentlich nicht bereit. Einerseits bauen wir Wohnsiedlungen, wo die Kinder sich zu wenig und kaum unbeaufsichtigt bewegen können, andererseits sperren wir sie in Wohnungen und Zimmer ein. Die Kinder randalieren und sind erzieherisch mühsam, und dann wundern wir uns. Man kann auch die Frage stellen, weshalb die Kinder überhaupt so aktiv sind? Die Antwort lautet: Die brauchen das, um für ihre Motorik und auch die übrige Entwicklung die notwendigen Erfahrungen machen zu können. Die Natur hat die Kinder so ausgestattet, dass sie sich bewegen wollen, damit sie die entsprechenden Erfahrungen machen können. Mir ist aufgefallen, wenn man mit Kindern in den Wald geht, wird ihnen nie langweilig. Warum eigentlich? Bis vor etwa 200 Jahren sind die Kinder im Freien aufgewachsen, und auch die Erwachsenen hatten sich überwiegend im Freien aufgehalten. Das hat verhaltensbiologische Folgen: Wir haben uns darauf eingestellt. Die Menschheit ist in der Natur alt geworden und nicht in einem Raum. Das läuft natürlich weiter. Wenn wir die Menschen – und vor allem die Kinder – einsperren, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir dadurch Probleme bekommen. Eine kürzlich publizierte Studie zeigt, wenn man vor allem den Knaben genügend Freiraum lässt, um sich zu bewegen, dass sie dann in der Schulstunde ruhiger dasitzen und bessere Leistungen erbringen, was eigentlich nicht erstaunt.“

Auch die Sprachentwicklung verläuft bei verschiedenen Kindern ganz unterschiedlich. Während einige Kinder bereits im Alter von 10 Monaten erste Worte sprechen können, kann das bei anderen mitunter bis zu 30 Monate dauern. Auffällig an der Sprachentwicklung ist, dass diese bei Mädchen eher früher als bei Buben stattfindet. Beim Schuleintritt haben die Kinder bereits eine Entwicklung von fünf Jahren hinter sich und dementsprechend zeigen sich große Unterschiede. Ein fünfjähriges Kind verfügt im Mittel über einen Wortschatz von ca. 5.000, sprachlich gut entwickelte Kinder können durchaus auch auf 7.000 bis 12.000 Worte kommen, während weniger gut entwickelte nur über 1.000 bis 2.000 Worte verfügen. Die Kinder kommen also mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule. Der Grund dafür liegt zum Teil in der Veranlagung, vor allem  jedoch Kinder aus sogenannten „bildungsfernen Schichten“, tendenziell oft mit Migrationshintergrund, konnten in den ersten Lebensjahren nicht die Sprachentwicklung machen, die notwendig gewesen wäre. Nicht wenige dieser Kinder bleiben in der Entwicklung hinten, haben einen kleinen Sprachschatz und später oft Probleme mit der Schriftsprache. 

In einem Vortrag demonstrierte Remo Largo anhand des Beispiels dreier Kinder mit unterschiedlicher Lesekompetenz deren Chancen im Schulalltag: Lars hat zwischen zweieinhalb und drei Jahren beschlossen, mit dem Lesen anzufangen und eine hohe Lesekompetenz erreicht. Eldar fängt als durchschnittliches Kind mit 6 bis 8 Jahren an zu lesen und erreicht eine durchschnittliche Kompetenz. Patrik hingegen fängt mit 9 bis 11 Jahren an und bleibt auf einem niedrigen Niveau. Wenn Eldar erwachsen ist, hat er eine Lesekompetenz wie Lars mit 9 bis 10 Jahren. Patrik hat als Erwachsener eine Kompetenz wie Eldar mit 10 oder Lars mit 7 Jahren. Dass Kinder so verschieden sind, lässt sich mit keiner Schulreform lösen. Es gibt keine Lösung, die zu homogenen Lerngruppen führt. Nur eine Individualisierung des Unterrichtes kann den Kindern einigermaßen gerecht werden. Im Grunde genommen will jedes Kind so lernen, wie es seinem Entwicklungsstand entspricht. 

Angenommen, die drei aus dem Beispiel der Lesekompetenz sind jetzt 10 Jahre alt und gehen gemeinsam in die Schule, und der Lehrer stellt sich auf die durchschnittliche Entwicklung aller Schüler seiner Klasse ein. Die Texte, die in der Schule gelesen werden, entsprechen Eldars Entwicklung, der hat daher ein Erfolgserlebnis, dem geht es gut. Dem Lars weit weniger, denn das, was hier gelesen wird, hat er schon vor zweieinhalb Jahren gelesen und es ist letztlich eine Frage des Temperaments, ob er auffällt oder nicht. Es gibt Kinder, die werden aggressiv, andere ziehen sich zurück und machen gar nichts mehr, weil sie sich langweilen. Patrik hingegen versteht nur Bahnhof, weil er den Text erst mit 16 Jahren verstehen können wird! Vom ersten Schultag an hinkt er hintendrein, das ist eine absolut entsetzliche Erfahrung. Genauso ergeht es Kindern, deren Zahlenverständnis unterentwickelt ist. Nicht wenigen geht es so, dass sie neun Jahre in die Schule gehen und erleben müssen, „ich kann’s nicht, ich versteh’s nicht, ich werde es nie schaffen“. Das ist eine Katastrophe! Da darf man sich nicht wundern, wenn diese Jugendlichen, sobald sie aus der Schule rauskommen, überhaupt nichts mehr mit Lernen zu tun haben wollen, Mühe haben, eine Lehrstelle zu finden u.s.w.. 

Remo Largos Normalität heißt Vielfalt. “Ich gehe davon aus, dass das Kind sehr genau weiß, was es werden will“, behauptet er in einem Interview im Tonfall unerschütterlicher Gewissheit. „Wenn Sie hinschauen – und das habe ich jetzt weiß Gott lange gemacht – wollen sich Neugeborene, Säuglinge und dann rauf bis zum Jugendlichen, selbstbestimmt entwickeln. Wenn man sie denn lässt! Wir gehen immer davon aus, dass der Mensch beliebig anpassungsfähig ist. Das ist überhaupt nicht meine Erfahrung.“ Nach Largos Meinung können wir uns nicht grundsätzlich wandeln. Wir werden geboren als die, die wir sind. In einer schlummert die Mathematikerin, im anderen der Tänzer. Ob unser Leben gelingt, hängt sehr davon ab, ob unser Umfeld unsere Neigungen und Talente erkennt und fördert. Largo zeichnet ein ziemlich tristes Bild unserer Gesellschaft, weil sie zwar Individualität predigt, zunehmend aber nur einen Typus honoriert – den Dienstleister, den Funktionierer. „Du hast eine Matheschwäche? Pech gehabt. Du hast eine Leseschwäche? Pech gehabt. So geht’s doch“, sagt er verärgert. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, glaubt er, prägen unseren defizitären Blick auf Kinder: eine von Männern dominierte Pädagogik. Eine Schule, die seit der Industrialisierung mit einem Disziplinierungsauftrag verquickt ist.  

„Wir reden sehr viel über Kinder, aber dabei spielen die eigenen Erwartungen und die eigenen Ängste, die wir haben, eine große Rolle. Sehr vieles an der öffentlichen Diskussion über die Schule hat eigentlich nichts mit den Kindern zu tun, sondern mit den Erwartungen der Eltern, was sie von ihrem Kind möchten. Ich denke, dass wir uns da wirklich zurücknehmen müssen, denn die Kinder kommen nicht für uns auf die Welt, sondern sie wollen das werden, was sie nun mal sind. Es kann nicht sein, dass wir wegen unseren Ängsten die Kinder unglücklich machen. Die meisten Kinder heutzutage sind ja Wunschkinder. Das ist eine Entscheidung, das war ja in der Geschichte der Menschheit nie der Fall. Kinder waren Schicksal, aber jetzt entscheiden wir uns und ich habe oft den Eindruck, dass wir damit verbinden, dass wir damit einen Anspruch auf das Kind verbinden, dass es gefälligst unsere Erwartungen erfüllen soll. Ich denke, dass das wirklich die Kinder nur unglücklich macht. Wenn wir sie so sein lassen, wie sie eben sind und sie auch vor allem dementsprechend unterstützen, dann kommt’s gut raus.“