Auf Umwegen dem Leben begegnen

Gudrun Totschnig im Gespräch mit André Stern über das Leben als Umweg, vermeintlich direkte Wege, den Weg der Begeisterung und über die Mühe als Indikator, vom eigenen Weg abgekommen zu sein.


von Gudrun Totschnig

G: Als wir in der Redaktionssitzung zum Thema „Umwege“ gebrainstormt haben, habe ich mich an einen Vortrag von dir erinnert. Dort hast du von einem Spaziergang mit deinem Sohn erzählt, bei dem ihr nicht weit gekommen seid, weil ein Stecken hier, ein schöner Stein dort die Aufmerksamkeit von deinem Sohn auf sich gezogen haben. Mir ist da bewusst geworden, wie oft zwei unterschiedliche Tempi in der Begleitung junger Menschen aufeinander treffen: das der Erwachsenen mit einem Ziel vor Augen und das des jungen Menschen, den wir begleiten, der in einem ganz anderen Tempo und mit ganz anderen Interessen unterwegs ist, die von außen betrachtet wie Umwege erscheinen.
Kannst du  schildern, wieso dieses der eigenen Spur mit all ihren Verzweigungen Folgen so wichtig ist für die Entwicklung von (jungen) Menschen?

A: Du möchtest, dass ich innerhalb einer Antwort die ganzen Bücher und Vorträge, die ich machen durfte, zusammenfasse? (lacht) Ich glaube nicht, dass man diese Frage so direkt beantworten kann. Zuerst aber vielen Dank auch dir und euch für die Gelegenheit, über diese Themen, die mir so sehr am Herzen liegen, zu kommunizieren. Zu deiner Frage muss ich vorher doch noch etwas loswerden: Ich liebe Fragen, ich liebe deine Fragen, ich liebe eure Fragen und ich habe gute Gründe, Fragen zu lieben. Ohne Fragen hätte ich über all das nicht nachgedacht, worüber ich die letzten Jahrzehnte nachgedacht habe, ich hätte keine der Begegnungen erlebt, keine der Entdeckungen gemacht, die ich machen durfte. Eine Frage schlägt eine Brücke und die Person, die gefragt wird, hat die spannende Aufgabe, Elemente aus der eigenen Welt und Elemente aus der Welt des Gegenübers zu finden, damit sich diese Elemente in der Mitte der Brücke begegnen und daraus dann ein Bild entsteht, das für beide verständlich ist –  daher Danke für die Fragen! In meiner andauernden Kindheit – ich bin heute ein 53-jähriges Kind – wurde ich oft gefragt: Wie hast du Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt? Dann musste ich immer erst darüber nachdenken, warum man mich über diese drei Dinge fragt und nicht über Tanzen, Singen, Kochen. Da habe ich festgestellt, es gibt Hierarchien in unserer alten patriarchalen Weltordnung und diese Hierarchien führen dazu, dass wir aus irgendeinem Grund Lesen, Schreiben und Rechnen auf ein Podest gestellt haben. Für das Kind ist das überhaupt nicht selbstverständlich und natürlich, die Dinge einzustufen in Kategorien und dann diese Kategorien noch als „gut“, „besser“, „die besten“ zu bezeichnen. Das ist dem Kind fremd, denn das Kind ist so frei. Und was ich dazu sagen wollte – und dann bin ich endlich fertig mit meiner langen Nicht-Beantwortung deiner Frage –  ist: Ich bin hier als Botschafter der Kinder, das ist mein Job, das ist meine Rolle, das ist das, was ich am besten tue als gebliebenes Kind. 

Also, was sind Umwege? Wenn ich über die Definition von Umwegen nachdenken müsste, dann ist es eigentlich die Definition von Leben, oder? Weil was ist das Leben sonst als ein Umweg zwischen Geburt und Tod? Das Endziel der Reise ist das Einzige, was sicher ist. Und wir versuchen diesen Umweg möglichst lange und möglichst spannend zu gestalten, was nicht immer gelingt. 

Das Auffallende ist, dass wir oft die Rhythmen und Rituale unserer Kinder nicht beachten und ich musste ihnen ein ganzes Buch widmen. Wir beachten sie nicht und wir verachten sie oft. Und für das Kind ist es schmerzlich, wenn man seine Rituale übersieht und wenn man das Kind die ganze Zeit davon entfernen möchte, wonach es sich sehnt. 

Ich kann ein ganz konkretes Beispiel geben: Wir gehen fast jeden Tag in den Wald und dort gibt es eine kleine Steintreppe. Und unser Sohn Benjamin, inzwischen acht Jahre alt, hat die Gewohnheit auf diese Treppe zu klettern und dann fünf Mal vom Rand herunter zu springen und dabei auf seine Art zu zählen. Er möchte, dass wir zuschauen, wie er das macht und dass wir mitzählen. Und manchmal ist er aus irgendeinem Grund beschäftigt und merkt später, dass wir an dieser Treppe schon vorbei sind. Er ist dann ganz außer Fassung. Es ist nicht immer leicht, zurück zur Treppe zu kommen, um dort diese fünf Sprünge und das dazugehörige Zählen zu erleben, aber wenn wir das nicht machen, ist die Welt nicht in Ordnung. Und wenn diese Welt nicht in Ordnung ist, dann ist die Sicherheit auch weg. Umwege sind meistens Rituale, die das Kind hat. 

Ein anderes Beispiel: Unser älterer Sohn Antonin liebte es, die Müllmänner zu beobachten, wie sie Mülltonnen in den Wagen kippen. Menschen, die niemand sieht außer diesem Kind. Das Kind bewundert sie und das ist so neu für diese Männer, dass sie das gleich bemerken und das Ganze dann für das Kind machen. Sie bringen die Mülltonnen ganz choreographisch zum Wagen und machen eine ganz spektakuläre Bewegung, um das dem Kind vorzuführen. Und wir sind dann jeden Tag um dieselbe Zeit aus dem Haus gegangen und haben auf die Müllmänner gewartet, weil das eine Begegnung war zwischen den Müllmännern und dem Kind! 

Niemand sonst sieht die Müllmänner, man hupt höchstens, weil sie so im Wege stehen und so lange brauchen, um diese Tonnen zu kippen. Die Begegnung mit dem Kind ist eine völlige Veränderung ihres Status’ und eine unglaubliche Bereicherung für das Kind, das keine Hierarchien zwischen den Berufen kennt. Und das ist ein Umweg, der Begegnung ermöglicht.

G: Umwege also als Begegnungen mit dem Leben! Ich würde dir gerne die Illustration zeigen, die unsere Tochter zum Thema „Umwege“ gezeichnet hat und die auch das Cover dieser Ausgabe sein wird. Wie kannst du dir erklären, dass es uns immer wieder auf diese linke vermeintlich direkte Spur zum Ziel zieht und wir den Weg, der näher dran ist am Leben und an unserer eigenen Begeisterung und Freude, einfach nicht gehen?

A: Es gibt einen Schlüssel: Unsere Kinder werden so, wie wir sie sehen und wir sind so geworden, wie man uns gesehen hat. Und uns wird gesagt, dass es einen direkten Weg zum Erfolg gibt: Hör gut zu in der Schule, dann kriegst du gute Noten. Bekommst du gute Noten, so kannst du ein gutes Studium machen. Machst du ein gutes Studium, kriegst du ein gutes Diplom und hast du ein Diplom, kriegst du einen guten Job und wenn du einen guten Job hast, dann bist du angekommen – das ist der direkte Weg. Es wird uns gesagt, das ist der zu erreichende und ideale Weg und die Guten gehen diesen Weg. Und wir wollen eben auch gut sein wie die Guten und gehen dann diesen Weg, auch wenn er für uns umständlicher ist. Denn all diese Prüfungen, all dieses gute Benehmen, das man dann vorspielen muss usw. – all das führt nicht direkt zum Ziel. Ich habe ein ganz konkretes Beispiel: Ich bin ein geborener Gitarrist und habe mit 23, als ich schon ziemlich fortgeschritten war in meinem Werden als professioneller Gitarrist und Musiker, einen Film gesehen, eine Liebesgeschichte zwischen einer Geigerin und einem Geigenbauer. Und ich sah diesen Geigenbauer in seiner Werkstatt. Ich war wie vom Blitz getroffen, Liebe auf den ersten Blick! Das will ich auch machen, das ist mein Ding. Und dann bin ich aus dem Kino gekommen, überzeugt, dass das auch möglich sein wird, was ich möchte, weil das meine Erfahrung war in den letzten 23 Jahren. Ich fand dann aber keine Kurse zu Instrumentenbau, das war scheinbar nicht so leicht wie ich dachte. Dann habe ich Bücher gelesen, damals gab es noch kein Internet, Bücher waren meine Quelle für alles.

Ein kurzer Einschub: Wir haben jetzt gar nicht über das Lernen gesprochen. Wir glauben, dass Lernen und Auswendiglernen dasselbe sei und das ist überhaupt nicht der Fall: Unser Gehirn speichert nur Dinge, die es versteht und damit es die Dinge versteht, müssen die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert sein und das geht nur, wenn das Thema dich gerade brennend interessiert. Ich arbeite ja mit Wissenschaftler*innen zusammen, die uns zeigen, dass Lernen eigentlich nichts ist, was wir machen können, sondern nur etwas ist, das uns passieren kann. Und wenn wir es versuchen zu machen, dann gelingt es auch nicht. 80% von dem, was ihr in der Schule lernen habt müssen, habt ihr vergessen, weil es euch nicht interessiert hat. Ich war damals nach dem Film in einem Zustand der Aktivierung der emotionalen Zentren und so habe ich diese Informationen, die absolut durcheinander und ohne pädagogische Reihenfolge zu finden waren, gleich verstanden und gespeichert. Dann habe ich gedacht, ich gehe zu den verschiedenen Gitarrenbauern in Paris und frage sie einfach, ob sie mir das zeigen, was sie machen. Aber alle haben mir gesagt: Erstens musst du Abitur haben und zweitens musst du über drei Jahre eine Schreinerschule besuchen, dann darfst du Feinschreinerei zwei Jahre lang lernen und dann Geigenbau, und zwar drei Jahre lang und dann kannst du eine spezialisierte Ausbildung besuchen als Gitarrenbauer und dann wiederum als Lehrling zu uns kommen. Und für sie war das der direkte Weg, der dich sicher zum Ziel führt, weil du voraussehen kannst, wo und wann du wo bist. Aber für mich war das zu umständlich und nicht der richtige Weg und ich habe weiter gesucht. Und ich hätte fast aufgegeben. 

Eines Tages aber kam ich auf einer Reise in der Schweiz bei dem Gitarrenbauer-Atelier von Werner Schär vorbei, ging hinein und fragte, was ich schon immer gefragt hatte, nämlich: „Würden Sie mir zeigen, wie Sie das machen?“ Und der Mann hat den Kopf gehoben und gesagt: „Ja, das kann ich tun.“ Und dann hat er anschließend etwas gesagt, das für mich ein Schlüssel ist: „Ich kann dir alles zeigen, beibringen kann ich dir nichts.“ Er hat mir alles gezeigt, er hat mir das beste Holz und das beste Werkzeug in die Hand gedrückt, mir gezeigt, wie er das macht und mir gesagt: „Mach du auf deine Weise, das was du siehst.“ Zwei Monate später war das erste Instrument fertig, das ich gebaut hatte, und das war schlecht. Und das war mein Glück, dass es schlecht war. Wir haben  zusammen analysiert, warum die Gitarre nicht gut war. Und Werni sagte zu mir: „Jetzt weißt du, warum sie nicht gut war, jetzt weißt du, wohin du möchtest, jetzt baust du eine zweite und zwar bei dir zuhause. Und du kommst wirklich nur für die Dinge, die du nicht zuhause machen kannst.“ Und ein paar Monate später war sie fertig! Und sie war gut! Werner hat mir dann angeboten, mit ihm gemeinsam in der Werkstatt zu arbeiten und das haben wir dann jahrelang gemacht.

G: Das heißt, die erste Gitarre war ein ganz wichtiger Umweg für dich?

A: Das Ganze war ein Umweg oder es war der direkteste Weg. Ich bin in weniger als einem Jahr zum Gitarrenbauer geworden und in weniger als drei Jahren war ich vom Nullpunkt bis zum professionellen Stadium gegangen: über Umwege, die aber für mich der direkteste Weg waren. Und das beobachte ich im Alltag, dass die Menschen die ganze Zeit Umwege gehen, um zu werden. Man sagt, Fehler zu machen sind unnötige Umwege, doch das stimmt nicht. Fehler sind noch einmal Wegebner. Niemand darf dir sagen, was ein direkter Weg und was ein Umweg ist, weil der direkte Weg von dir ist mein Umweg und mein direkter Weg ist dein Umweg, nur so ist es zu verstehen. Es gibt also nicht den direkten Weg, es gibt nicht den Umweg, es gibt deinen Weg. Und ich merke es immer wieder: Es gibt einen konventionellen Weg und es gibt einen Weg der Begeisterung. Und der Weg der Begeisterung führt dich manchmal eben auf Umwege, auf Irrwege auch, die gehören dazu. Dann hast du eine Expertise, sowohl im Gelingen wie im Nicht-Gelingen und diese Erfahrung ist eine kostbare Stütze für deine Expertise. Und deine Expertise ist deine Genialität und deine Genialität kommt aus der Begeisterung und macht dich unentbehrlich für die Welt. Der Weg der Begeisterung ist vielleicht nicht „direkt“, aber es ist der effizienteste Weg. Die Begeisterung trägt dich durch Hindernisse zu deinem Ziel. Und diese Begeisterung macht, dass du magnetisch wirst für Informationen, die mehr oder weniger deinem Bereich entsprechen. Und du sammelst immer mehr dieser Informationen und damit steigt deine Kompetenz. Bei uns sagt man immer: Das zu erreichende Ziel ist die Qualifikation, die Diplome, und der direkte Weg zum Diplom ist bekannt, aber die Leute am anderen Ende, die angeblich am Ziel sind, die wollen deine Qualifikation nicht sehen, sie wollen deine Kompetenz erleben. Sie wollen, dass du ihnen hilfst, ihre Probleme zu lösen durch Kenntnisse und Kompetenzen, die du hast und die du dir selbst aus dem Stein gemeißelt hast und zwar aus Begeisterung. Also lasst uns bitte mit der Begeisterung anfangen. 

G: Was macht es mit dir zu wissen, dass es so viele Menschen gibt, die nicht den Weg der Begeisterung gehen, sondern den Weg, der angeblich als der effizienteste zu der Qualifikation, zu dem Zeugnis führt und dass immer mehr junge Menschen nach der Matura nicht wissen, was sie begeistert? Bist du zuversichtlich, dass wir Menschen zu unserer Begeisterung zurückfinden können?

A: An dieser Stelle hilft uns so ein Gespräch wie das, was wir jetzt führen. Es erinnert uns daran, dass es den Weg der Begeisterung gibt und das ist die hier zu weckende Sehnsucht. Denn jeder und jede wird wissen, wie man das im eigenen Leben umsetzt. Der Zustand der Begeisterung ist wie ein innerer See, der kann nicht vernichtet und auch nicht geschaffen werden – das ist wie beim Meditieren: Man erreicht nicht einen neuen Zustand, man entfernt die Wolken und Vorhänge von diesem Zustand, den wir in uns tragen, und kann dann diesen inneren See wieder erblicken. Das Gespräch heute erlaubt eine Ecke des Vorhanges zu lüften und eine Sehnsucht in den Leser*innen zu wecken und mehr will ich nicht erreichen. Das Problem ist, dass wir einen Kult der Mühe entwickelt und ab dem Moment der individuellen Begeisterung den Rücken gekehrt haben. Weil da, wo Begeisterung ist, ist keine Mühe mehr. Da, wo Begeisterung ist, ist höchstens Anstrengung und die Kinder leben uns das die ganze Zeit vor, wie sie sich anstrengen, aber in der Begeisterung. Mühe hingegen ist das, was übrig bleibt, wenn keine Begeisterung mehr da ist. Begeisterung bringt dich dazu, Heldentaten zu vollbringen und über dich hinaus zu wachsen: Das ist das, was Kinder tun, wenn sie über zu große Pfützen oder zu hohe Stufen springen. Mühe bedeutet immer: Hier ist nicht dein Weg. Wärst du auf deinem Weg, würdest du die Mühe nicht empfinden, sondern höchstens die Begeisterung und die Anstrengung. 

Ich wollte einmal wissen, wie schnell mein Auto fährt, das ich gebaut hatte, und ich wusste nur eines: die Drehzahl des Motors. Ich wickelte ein Stück Papier um das Rad, um zu verstehen, wie viel Zentimeter das Rad in einer Umdrehung hinter sich bringt. Und das war natürlich furchtbar umständlich. Dann habe ich in der Enzyklopädie meiner Mama geblättert und bin der Zahl π begegnet, aber ich glaubte dieser Zahl nicht. Ich wollte das kontrollieren, deshalb habe ich ein Stück Papier mit einer Nadel am Anfang und am Ende durchgestochen und dann die Distanz zwischen den beiden Mini-Löchern gemessen und fand bestätigt, dass π stimmt. Ich fand heraus, dass es die Aerodynamik und die Reibung gibt und dann geht eventuell der Weg nach oben. Ich habe weiter studiert und bin dann dem Bluebird von Sir Malcolm Campbell, dem damals schnellsten Auto der Welt, begegnet und habe erfahren, dass er mit einer Stoppuhr gearbeitet hat und so berechnen konnte, wie schnell das Auto wirklich ist. Ich habe auf furchtbar umständlichen Wegen gelernt, aber ich weiß es bis heute. Ich habe diese Daten nicht auswendig lernen müssen, dann würde ich es heute nicht mehr wissen, sondern sie mir gemerkt, weil es mich damals so brennend interessiert hat.

G: Du wolltest die Geschwindigkeit deines Autos erforschen und hast dich nicht abbringen lassen und bist wochenlang drangeblieben. Heutzutage liest man aber vielerorts, dass Menschen, auch junge Menschen, eine Aufmerksamkeitsspanne von drei Sekunden haben.

A: Das stimmt alles nicht – das ist schon wieder diskriminierend für die Jugendlichen! Sie haben eine Aufmerksamkeitsspanne von drei Minuten oder drei Sekunden weil es sie nicht interessiert. Sobald sie etwas interessiert, haben sie eine Aufmerksamkeitsfähigkeit von Stunden. Da möchte ich kurz eingehen auf die Sache mit den Bildschirmen: Uns wird die ganze Zeit gesagt, dass die Bildschirme für Kinder und Jugendliche so schlimm sind, weil sie die Aufmerksamkeit der Kinder aufsaugen. Und ja, wir beobachten im Alltag, dass unsere Kinder ihre Bildschirme gar nicht mehr loslassen wollen und wir denken die Bildschirme sind schlecht für die Kinder. Wir beleuchten das falsch! Die Wahrheit ist folgende: Unsere Kinder können überhaupt nicht das tun und sein, wonach sie trachten. Sie wollen die Heldinnen und Helden von ihrer Geschichte sein und sie wollen spielen. Und beides kann man in unserer Welt nicht, das kannst du weder in der Schule, noch zuhause. Und du kannst keine Heldin und kein Held sein, weil uns die ganze Zeit gesagt wird, es wäre besser, wenn du anders bist als du. Wir alle tragen das verletzte Kind in uns und sehen uns heute mit den Augen, mit denen wir angesehen worden sind als wir Kinder waren. Und wir sehen auch unsere eigenen Kinder auf diese Art und Weise. Man sagt uns die ganze Zeit „ich hab dich lieb, aber ich hätte dich lieber, wenn du bessere Noten in Mathe hättest oder mir im Haushalt helfen, deine Hausaufgaben machen, dein Zimmer aufräumen würdest …“ Es ist immer „ich hätte dich lieber, wenn du anders wärst als du bist“ und das hört ein Leben lang nicht mehr auf. Und wir wollen verdammt noch mal geliebt werden. 

Der einzige Ort, wo unsere Kinder das sein und das erleben können, was sie erleben wollen, ist der Bildschirm, der Computer, das Smartphone, das Tablet… Dem Computer ist deine Schulleistung egal. Ob du männlich, weiblich oder was auch immer bist, was auch immer du für Fehler und für Diagnosen mitbringst – dem Computer ist das so egal. Der Computer kennt keine Diskriminierung, lädt dich nur ein in eine Welt, in der du Heldin oder Held bist, du wirst bewundert, geliebt, geschätzt und du kannst das erreichen indem du nur das tust, was du möchtest: nämlich spielen. Die virtuelle Welt ist nicht gefährlich für unsere Kinder, gefährlich ist die reale Welt, die nicht anziehend ist. Und unser Problem ist jetzt nicht, dass wir die Bildschirme regulieren oder verbieten, das ist Symptombekämpfung. Wenn wir an die Ursache herangehen wollen, dann müssen wir uns fragen: Wie gestalten wir die reale Welt, damit sie für unsere Kinder auch so anziehend ist wie die virtuelle? Und dann werden wir feststellen, dass sie nicht nur drei Sekunden oder nur drei Minuten Aufmerksamkeit vollbringen können. Sie können sich den ganzen Tag etwas widmen, wenn es sie interessiert, wenn es sie begeistert. 

G: Ich habe noch eine abschließende, persönliche Frage: Hat es in deinem Leben einen Umweg gegeben, wo du sagst, der hätte nicht sein müssen? 

A: Absolut, gewiss. Ich weiß es klingt eigenartig, aber ich bin in meinem Leben immer wieder zu einer Abzweigung gekommen, an der ich gesehen habe: Am bisherigen Weg komme ich nicht weiter. Nicht weil es mir hier nicht gefällt, sondern weil mich jetzt etwas noch mehr anzieht. Es gibt viele Dinge, die ich gelernt habe und die meinen Weg bestimmt haben, wo ich aber heute den entsprechenden Beruf nicht ausübe. Aber all diese Umwege sind eine Bereicherung für mein Leben. Ich bin beispielsweise nicht Kupferschmied geworden, aber ich kann alle Töpfe, die kaputt gehen, reparieren. Das ist sehr praktisch.

Wenn ich ganz ehrlich bin, das einzige Mal, wo ich die Erfahrung hatte, ich gehe jetzt einen umständlichen Umweg, den ich mir besser sparen möchte, ist aufgrund von gewissen Gesetzen, die mich dazu bringen, Fragebögen auszufüllen. Das sind Umwege, da verliere ich Zeit und Energie. Die Tatsache, dass man neuerdings in Frankreich erst auf Genehmigung seine Kinder nicht in die Schule schicken darf, bringt mich dazu, Umwege zu ertragen. Ein anderes Beispiel: Die Fahrprüfung ist die einzige Prüfung, die ich in meinem Leben jemals hatte. Ich konnte schon mehr oder weniger fahren und dachte, ich lerne hier, wie man richtig fährt. Und ich habe sehr schnell festgestellt: Hier bin ich nicht, um zu lernen, wie man gut Auto fährt. Hier bin ich, um zu lernen, wie man gut die Fahrprüfung besteht. Zum Beispiel hat mir der Fahrlehrer gesagt: „Schau in den Rückspiegel“ und dann habe ich gesagt „habe ich schon“, dann hat er gesagt „aber drehe den Kopf“ und ich habe gesagt „aber ich habe mit den Augen geschaut“, „ja, ist mir egal, drehe den Kopf, auch wenn du gar nicht hinschaust, denn das will der Prüfende sehen.“ In meiner Sicht der Dinge sind das Umwege, aber ich gehe sie, weil ich sonst nicht Auto fahren darf. 

Aber sonst war der organische Weg, der so umständlich ist und so viele Umwege beinhaltet, auf jeden Fall mein Weg. Durch meine Umwege sind so unglaublich bereichernde, berührende Begegnungen entstanden. Dann kommen die Kinder und bringen dich auf Umwege, die du nicht gedacht hättest. Ich kann nur unendlich dankbar sein dafür, dass ich diese Umwege alle gehen durfte und ich sie heute noch immer als richtig empfinde. Ich sehe aber meine Aufgabe darin, davon zu erzählen, weil wir diese Informationen brauchen, um Entscheidungen zu treffen, die wirklich persönlich sind. In diesem Sinne danke ich dir für diese Gelegenheit!

G: Möge dieses Gespräch viele Menschen inspirieren, an ihre Sehnsucht anzudocken, vielen Dank, André!

A: Danke dir und viel Begeisterung und viel Vertrauen!