Das Normale und das Andere

Wir leben in der Spielwerkstatt, in der Lernwerkstatt und an anderen alternativ-pädagogischen Orten ein Miteinander, das wir den „anderen Umgang“ nennen können. An den Bedürfnissen der Kinder orientiert, achtsam, selbstbestimmt, in Beziehung miteinander.Es ist das „Andere“. Verblüffenderweise, denn sollte es nicht das „Normale“ sein? Wie weit sind wir vom „Normalen“ im Sinne von menschlich, lebensfreundlich entfernt, wenn dieses Lebensfreundliche das „Andere“ ist?

Von Renate Liangos

Das Gleiche frage ich mich bei biologischen Lebensmitteln. Jahrtausende lang waren sie die normale Ernährung. Wer hat die mit Pestiziden besprühten, mit chemischem Dünger voll gesogenen „Lebens“-mittel zu „normalen“ erklärt? In diesem Sinne plädiere ich dafür, die fälschlich als normal bezeichneten Produkte mit „dieses Produkt kann ihre Gesundheit gefährden“ zu kennzeichnen. Eine machbare Veränderung hin zu biologischer Landwirtschaft wäre durch ein Umlegen von Förderungen einzuleiten. In der Schweiz wird es noch in diesem Kalenderjahr eine Volksabstimmung zu diesem Thema geben. Franziska Herren hat dazu bereits vor Jahren die Initiative „Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz“ gegründet.

Jahrhundertelang akzeptieren wir ein Schulsystem, das auf Einschränkung unserer Lernfähigkeit und Lenkbarkeit der SchülerInnen beruht und bei den meisten Menschen psychische Probleme hinterlässt, als das normale.

Wollen wir uns im alternativen und innovativen pädagogischen Bereich als „anders“ verstehen oder als das „neue Normale“, das ursprünglich Normale, das Menschliche und Lebensfreundliche?

Zeit der Fragen 

Es ist höchste Zeit, dass wir hinterfragen, was wir so duldsam hingenommen haben, dass wir Fragen stellen und uns mit Herz und Verstand die Antworten suchen.

Es ist auch eine Zeit der Veränderungen und die Zeit des Handelns steht direkt vor uns, wartet auf unser Beginnen. 

Das „neue Normale“ gibt es schon hier und dort, in Erprobung sozusagen, als Modell. Jetzt geht es um uns alle, darum, uns als eine Menschheit zu begreifen, die Unterteilungen in schwarz und weiß, reich und arm, gebildet und ungebildet außen vor zu lassen und das zu sehen, was uns als Menschen verbindet.

Zeit der Reife

Ich finde Texte aus dem Jahr 2012 und noch viel ältere und staune darüber, dass das damals gute Gedanken waren, die jetzt in der Praxis anstehen und uns auf dem Weg in eine gemeinschaftliche Welt unterstützen können. Die Zeit ist reif. Es dauert noch ein wenig, doch wenn wir durch eine entsprechende Reifezeit gehen, folgt darauf eine gute Ernte. Reife ist auch eine Zeit um die “richtigen“ Entscheidungen zu treffen. Was brauche ich, was kann ich loslassen, wovon sollte ich mich verabschieden, im Hinblick darauf, was ich leben möchte und wie unsere Welt aussehen soll?

Zeit der Beziehungen

Das klingt nun fast ein wenig provokativ, wo doch „social distancing“ in aller Munde ist. In Anlehnung an eine Aussage von Fr. Univ.-Prof. Dr. Barbara Juen möchte ich anmerken: Wir sollten erkennen, dass es sich eher um ein „physical distancing“ handelt. Ein wenig körperlicher Abstand muss uns nicht daran hindern, Beziehungen warmherzig zu leben. Gerade in diesen unsicheren Zeiten ist es wichtig und heilsam für uns alle, die Bedeutung echter Beziehungen erleben zu können. Sie helfen uns, Emotionen, die in schwierigen Zeiten vermehrt hochkommen, auszubalancieren. Wir sind soziale Wesen, wir brauchen einander. Das führt uns diese „andere“ Zeit deutlich vor Augen.

Zeit der Übergänge

„Bewusst gestaltete Übergänge helfen uns, die Welt für einen Moment anzuhalten und unseres Standortes gewahr zu werden…In diesem Zwischen-Raum kann Heilung stattfinden, können alte Muster umgewandelt werden und neues Leben entstehen. Ich löse mich von altem, stehe vertrauensvoll an der Schwelle, und lasse mich in das Neue integrieren (Ablösungs-, Zwischen- und Integrationsphase)“, meint Tanja Täuber in ihrem Artikel „Über die Brücke“ in der frischen BÖE, September 2006.

Um ein wenig Verständnis zu bekommen für die verunsichernde Wirkung eines  Überganges, kann ich folgende einfache Übung empfehlen: 

Stell dich gut hin, beide Füße parallel, und nun mache einen Schritt nach vorne, langsam, und noch einen, behutsam. Nimm wahr, wie du im Gehen immer wieder dein Gleichgewicht verlierst und wieder findest. Bemerkst du die Unsicherheit bevor du wieder im Gleichgewicht bist? – Krise bedeutet also Ungleichgewicht, aber auch Bewegung!

Übergänge begleiten uns ein Leben lang. Das Laufenlernen, der Schritt in die Kinderbetreuungseinrichtung, der Schulbeginn, das Jugendalter, die Zeit des Erwachsenseins. Einige Übergänge sind entwicklungsbedingt, andere entstehen vielleicht durch Umzug oder die Berufswahl.

Ich sehe diese „andere“ Zeit, die wir nun durchleben, als eine Zeit des Übergangs. Wohin? Das liegt an uns. Daran, wie gut, wie lebensfreundlich, wie gemeinschaftlich wir uns unser Zusammenleben vorstellen können und was wir bereit sind dafür zu tun und dafür aufzugeben. Möge uns unsere Menschlichkeit führen, unser Mitgefühl mit allem Lebendigen.