Von “Rollen” und von “Bildern”.
Renate Liangos
Eine Rolle hat durchaus etwas Ordnendes, wenn der Faden ohne Schlingen und Knoten über die Rolle laufen kann. „Von der Rolle sein“ bedeutet also, dass wir etwas durcheinander sind, unerwartetes oder ungewöhnliches Verhalten zeigen.
Der Begriff „Rolle“ – wie wir ihn im menschlichen Zusammenleben verwenden – kommt tatsächlich aus dem Bereich des Theaters, wo vor einigen Jahrhunderten der Text für die einzelnen Darsteller bei Theaterproben auf handliche „Schriftrollen“ geschrieben wurde.
Eine menschliche Gemeinschaft kommt anscheinend ohne Rollen nicht aus.
Kaum sind wir geboren worden, haben wir auch schon die Rolle des Kindes erhalten, noch präziser „des Mädchens“ oder „des Jungen“, vielleicht auch gleich die des Bruders, der Cousine usw. Wir könnten sagen, von einer Rolle zur nächsten spannt sich der Bogen unseres Lebens und oftmals füllen wir mehrere Rollen gleichzeitig aus. Dadurch kann es auch zu Rollenkonflikten kommen. Zum Beispiel können die Anforderungen an die Vaterrolle und die Rolle als Firmenchef stark voneinander abweichen und falls die Tochter dann noch im Betrieb arbeitet, wird es noch schwieriger, Rollen auseinander zu halten, und in Situationen „richtig“ zu reagieren.
Eine Rolle ist im Grunde eine Orientierungshilfe im gesellschaftlichen Leben. Menschen wissen in etwa, was von ihnen in bestimmten Rollen erwartet wird oder welche Vereinbarungen für das Ausfüllen einer Rolle in einer speziellen Gemeinschaft getroffen wurden.
Die Rolle hilft mir also, eine bestimmte Funktion auszuüben oder erforderliche und erwünschte Abläufe am Funktionieren zu halten. Ich agiere „richtig“ in meiner Rolle, wenn dies gegeben ist.
Je besser ich mir meiner Funktion in einer bestimmten Rolle bewusst bin, desto besser kann ich auch mit verschiedenen Rollen in meinem Leben umgehen. Und je näher ich mir selbst als Mensch bin, desto weniger muss ich mich mit vorgegebenen Rollen identifizieren und kann sie je nach Erfordernis leicht wieder los lassen. Denn eines ist klar: Wir sind nicht nur unsere Rollen.
Schmerzlich bewusst wird dies so mancher PensionistIn die/der sich ein Leben lang mit der Rolle als ArbeiterIn identifiziert hat, sich auf den Ruhestand freut und dann in eine Art „schwarzes Loch“ fällt, weil die Rolle wegfällt und damit auch die Zuschreibungen der Gesellschaft, die doch auch Stütze geboten haben. Verstärkt geht es dann darum: Wer bin ich? Was bin ich? Wie bin ich? Natürlich tauchen diese Fragen nicht nur im letzten Drittel des Lebens auf, sondern sie begleiten uns ein Leben lang.
Wir sind auf der Suche nach unserem immensen Potential, ob uns das nun bewusst ist oder nicht.
Mutter sein, Vater sein – eine der meist verbreiteten Rollen
Eckhart Tolle unterscheidet in „Eine neue Erde“ zwischen Funktion und Rollenidentität. „Zur notwendigen Funktion von Eltern gehört unter anderem, die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen, das Kind vor Gefahren zu schützen und ihm ab und zu zu sagen, was es darf und was es nicht darf. Wenn Elternschaft hingegen zur Identität wird und das Selbstgefühl ganz oder weitgehend daraus bezogen wird, erfährt die Funktion schnell eine Überbewertung, wird übertrieben und beherrscht dich schließlich vollkommen.“ Dabei laufen wir Gefahr, in Kontrolle und Anmaßung zu verfallen.
„Vor allem aber bleibt die Rollenidentität noch lange bestehen, nachdem es gar kein Bedürfnis für die jeweilige Funktion mehr gibt.“ Selbst wenn das Kind schon erwachsen ist, wollen Eltern die Kontrolle darüber behalten, was denn nun das Beste für das Kind sei. „Die Elternrolle wird zwanghaft weiter gespielt, und so kommt keine echte Beziehung zustande. Die Eltern definieren sich über ihre Rolle und haben unbewusst Angst davor, ihre Identität zu verlieren.“
Dieses Beispiel der Elternrolle ist auch auf andere Rollen anwendbar. Was ein Zurechtkommen in der menschlichen Gesellschaft erleichtern soll, birgt auch die Gefahr des Machtmissbrauchs, der Einengung der eigenen Persönlichkeit und der Angst vor dem Aufgeben einer Rolle.
Bilder von Rollen im Kopf haben
Das soll wohl verdeutlichen, dass wir uns von bestimmten Rollen bestimmte Vorstellungen machen. Wir erlernen dies durch unser Leben in einer Gesellschaft mit den jeweiligen Regeln, Gesetzen und Umgangsformen. Hier wird für mich der Unterschied zwischen dem Menschen an sich und der Rolle, die er ausfüllt, deutlich.
Wenn ich mir von einem Menschen ein Bild mache, dann muss ich mir dabei im Klaren sein, dass ich ihn niemals ganz erfassen kann. Er/sie ist immer mehr als ich sehe, als ich weiß, als er/sie mir zeigt. Mir ein Bild zu machen, engt meine Sicht auf den Menschen ein und auch den Spielraum, den ich meinem Gegenüber gebe, um sein Eigenes ausdrücken zu können.
Mache ich mir jedoch ein Bild von einer Rolle, so ist dies im Zusammenleben erst einmal nützlich. Bin ich eine Bankangestellte, weiß ich in etwa, was von mir an Fähigkeiten und Verhalten erwartet wird. Bin ich eine Kundin im Supermarkt, habe ich eine Vorstellung davon, wie sich ein Verkäufer verhalten wird.
Wir stoßen auch immer wieder an Grenzen, wenn wir uns in bestimmten Rollen Freiräume nehmen wollen, diese anders als üblich zu leben versuchen.
Eine Rolle kann ich auf meine eigene subjektive Art leben, so lange die Funktion nicht gefährdet ist. Die Funktion wäre somit der Sinn der Rolle, wozu sie gebraucht wird, um das Zusammenleben zu ermöglichen.
Im Laufe der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, wie schwierig es sein kann, Rollenzuschreibungen gesamtgesellschaftlich zu verändern. Als Beispiel sei die Rolle der Frau in der Gesellschaft erwähnt, deren Veränderung in Richtung Gleichberechtigung sich als Prozess über viele Jahrzehnte erstreckte.
Es bleibt wichtig, Bilder von Rollen, die wir durch Sozialisation in unseren Köpfen tragen, immer wieder zu hinterfragen. Nur so kann uns unnötig einengendes Denken und Verhalten bewusst werden.
Rollenspiele – die Freiheit, Rollen ausprobieren zu dürfen
In der Spielwerkstatt läuft es zum Beispiel so ab:
„Ich bin die Mutter, und ihr seid meine Babys. – Ich will aber kein Baby sein. – Na gut, dann bist du eben ein Schulkind. – Darf ich auch mitspielen? – Du könntest der Papa sein. – Will ich aber nicht. – Magst du ein Hund sein? – Nein, lieber eine Katze.“
Nach einer Weile des gemeinsamen Spiels in der Puppenecke möchte die Katze doch lieber Papa sein und das Baby ein älteres Kind. Rollen werden getauscht, Spielabläufe verändert, eine Geschichte entfaltet sich, bis die Spielenden beschließen, dass es nun genug ist.
Ich habe schon Fußballspiele im Bewegungsraum erlebt, wo es vier Schiedsrichter und drei Fußballer gab, weil sich eben die meisten Kinder mal als Schiedsrichter erleben wollten und weil es grad so toll war, sich die roten und gelben Karten selbst zu machen und dann herzeigen zu können. Es hat sich niemand unter den Mitspielenden beschwert.
In der Altersgruppe von 3-6 Jahren sind Kinder normalerweise sehr offen für das Ausprobieren von Rollen und das Spielen nach individuellen oder gerade eben der Gruppe dienlichen Regeln. Junge Kinder sind noch nicht so stark geprägt von gesellschaftlichen Normen und Ansprüchen.
Buben schlüpfen in Prinzessinnenkleider, Mädchen spielen wilde Tiere, Betreuerinnen werden als Papas oder Mamas in die Geschichte mit einbezogen, auch wenn sie nicht aktiv am Spiel teilnehmen.
Einen Spiegel halten sie uns vor, wenn sie Betreuerinnen spielen. Als freche Affen fordern sie uns heraus, weil sie mal ein bisschen über die Stränge schlagen wollen. Als Babys zeigen sie ihr Bedürfnis nach Ruhe und Kuscheln. Als Piraten kämpfen sie um ihr Territorium im Hängematten-Schiff.
Im gemeinsamen Rollenspiel werden >> die unterschiedlichsten Erfahrungen gesammelt, verschiedene Blickwinkel können eingenommen werden, Empathie wird genauso trainiert wie Durchsetzungsvermögen.
Beispiel:
„Ich spiel nicht mehr mit, weil du immer alles bestimmst. –
Ok, dann machen wir es anders, was willst du sein?“
Oder aber: „Wir spielen Forscher, wenn du mitspielen willst, musst du ein Forscher sein. – Will ich aber nicht. – Dann kannst du nicht mitspielen.“ Das Kind zieht sich zurück, worauf ein anderes Kind auch entscheidet, dass es nun genug hat vom Forschen und die Gruppe ebenfalls verlässt.
Die Kinder erfahren dabei, wie sie sich in einer Rolle fühlen und auch, wie die Umwelt darauf reagiert.
Das große Feld des sozialen Lernens erfährt im Rollenspiel eine Art Verdichtung. Der geschützte Rahmen ist durch unsere Regeln und Vereinbarungen, sowie durch einfühlsame Betreuerinnen gegeben.
Auch für Erwachsene gilt: Im Rollenspiel können wir erleben „Das bin ich auch, das ist auch in mir drin“. Und wir müssen uns nicht gleich erschrecken, wenn wir neue Anteile in uns entdecken. Im besten Fall entscheiden wir uns bewusst, was wir davon leben und wie wir es ausdrücken wollen.
Wenn eine Rolle zwanghaft weiter gespielt wird, ist keine echte Beziehung möglich, haben wir weiter oben gehört. Dies gilt auch für das Rollenspiel, egal ob es sich um Superman oder ein namenloses Kätzchen handelt, es ist nur eine Rolle, die uns dienen soll und nicht umgekehrt.