In meiner beruflichen Funktion, ganz offiziell als psychosoziale Beraterin, hinterfrage ich oft, was ich bin, bzw. welcher Tätigkeit ich nachgehe. Das Wortkonstrukt klingt schon monströs, geschweige denn die Bedeutungskonstruktion.
von Natascha Wagner-Paar
psycho = psych (Psyche hätte per Definition noch etwas mit Seele zu tun)
sozial, kann man landläufig mit menschliches Miteinander betreffend übersetzten.
Be-raterin.
Die Vorsilbe ‚be‘ ist etwas, das von außen daherkommend wirkt. Wie be-malen, be-fahren, be-kunden… nicht von innen heraus, wie er-kunden, er-innern, er-finden, er-fahren,…
Be-raten, kommt das von Rat, der Rat-schlag, raten? rätseln?
In Wirklichkeit bin ich Geschichtensammlerin, Lebensgeschichten-Sammlerin. Manchmal fühle ich mich wie Momo, Michael Endes Momo. Ich höre zu, aktiv, manchmal auch passiv – ich nehme auf und bewahre. Momo hat die Gabe beim Zuhören im Erzähler die Lösung entwickeln zu lassen, das gelingt bei mir nur manchmal.
Da ich mich nun mal als Geschichten Sammlerin sehe und diese nicht nur horten will, möchte ich Dich nun, lieber Leser, an so mancher Geschichte teilhaben lassen und aus meinem alltäglichen Nähkästchen plaudern.
Los geht es mit einer dieser Geschichten.
Also ich, als psychosoziale Beraterin, wurde angefragt in einem BORG (Oberstufenrealgymnasium) in der 5. Klasse einen Präventionsworkshop in Sachen Sucht zu halten.
Gut, das ist mein Metier, da bin ich gut aufgestellt, ein paar Tage Vorbereitungszeit und ich bin am neuesten Stand der aktuell gefährlichsten Substanzen und Rauschmittel am Markt. Auch die üblichen obligatorischen sind mir bestens bekannt. Sogar die Straßennamen und Szene-Hypes habe ich bei meinen jüngeren Kollegen erfragt und habe mich auf den neuesten Stand gebracht.
Den Methodenkoffer habe ich geistig gepackt und auch den physischen ‚Suchtkoffer‘ inklusive Rauschbrillen, um einen Rauschparcour zu veranstalten, der erfahrungsgemäß die uninteressiertesten Jugendlichen ins Boot holt.
So mache ich mich voll sicher und hochprofessionell auf den Weg in besagte Schule, im Schlepptau meines Kollegen, der das schon ooooooft gemacht hat, die Gepflogenheiten an der Schule kennt und eben männlich ist, um die Geschlechterdiversität bedienen zu können. Mädchen zu mir, Burschen zu ihm.
So finde ich mich wieder mit 12 Mädels im Alter von 15-16 Jahren in der kuscheligen Schulbibliothek, im lockeren Sitzkreis, ganz unschulisch und in voller Pädagogen- und Pädagogikfreiheit. Es ist und soll ja kein Lehrer anwesend sein und auch nicht im Klassenraum stattfinden – zur Vertrauensbildung.
Ich beginne klassisch mit Beziehungsaufbau, wie es sich gehört und packe meine hochprofessionellen Tools aus, ganz auf dem neuesten Stand, amikal, locker.
Keine 30 Sekunden später fühle ich mich weder amikal noch locker noch in ‚Verbindung‘.
Niemand folgt mir, ich spüre förmlich das Desinteresse körperlich, es zieht und zerrt schwer an mir.
60 Sekunden später sehe ich mich einer Horde Smartphone-bewehrter Zombies gegenüber, die in ihre Geräte starren. Weit, weit weg von mir in einem anderen Universum, fern der Bibliothek und eventuell sogar dem Planeten Erde.
Nur ein Mädchen schaut mich an, zuckt die Schultern und meint nun ihrerseits ganz amikal, fast tröstend, ich solle mich nicht kränken, das wäre ganz normal. Man komme nicht dagegen an, wenn sich für die Mädels eine Gelegenheit biete mal draufzuschauen. Spricht’s und zückt ihrerseits ihr Handy und ist in der Sekunde darin abgetaucht.
Aha, da sitze ich nun hochprofessionell mit meinen Methoden, Tools, Gadgets, wie auch immer diese im allgemeinen Psycho-Gelaber so großartig benannt werden – vollkommen für die Fisch und die Wetti-Tant. Ratlosigkeit.
Wie war das mit Be-rat-erin noch mal? Ich rätsle vor mich hin, was ich nun machen soll. Der Workshop ist für volle 6 Std. [!] mit einer ½ Std Pause anberaumt. Panik ist immer ein schlechter Weg, obwohl sie heftig an meine Schulter klopft. Ich entscheide mich erst mal für das Nichts-Tun und Schauen.
In Ermangelung eines besseren Einfalls setze ich mich nach 5 Min. an die Seite des Mädchens, nennen wir sie Lena, das mir zuvor Trost gespendet hat und spechtel mit auf ihren Bildschirm.
Sie bedient das Gerät derartig schnell, dass ich nur den Daumen hüpfen, Schriftfetzen und Bilder vorbeihuschen sehe. Mir wird glatt schwindelig.
2 Minuten später bemerkt sie mich, neben ihr sitzend, schaut auf und mich an. Der Blick zuerst Mattscheibe, Langeweile, dann Irritation – daraus folgend hebt sich ihre linke Augenbraue. Ich schaue sie auch an und frage ganz simpel: „Was machst du denn da?“
Der Augenblick wird gefühlt zu einem Quantum… einer Ewigkeit… dann mit Blick zurück auf das Handy murmelt sie „Ich rette meine Flammen und muss noch connecten. Außerdem muss ich noch meine DMs checken“, Schweigen, Schweigen, Schweigen. Lena tippt wild herum, hebt den Blick und fragt provokant, ob ich nicht ein Programm durchzuziehen hätte.
„Nein“, sage ich, „in dem Fall interessiert mich jetzt ehrlich, wie man Flammen rettet und connected, oder DMs checkt!“
Sie beginnt mir zu erklären (natürlich mit Blick auf den Bildschirm, während sie wischt und tippt) dass diese Flammen ganz wichtig seien, denn diese wären Zeichen der Verbundenheit und Freundschaft mit ihren Leuten. Sie müssen groß und dauerhaft sein und dürfen auf keinen Fall ausgehen, sonst glauben ihre Besties, dass sie nicht mehr mit ihnen befreundet sein will. Dies passiere schon nach 24 Stunden, dann erlöschen sie. Lena reißt das Handy hoch, wirf sich in Pose, streicht ihr Haar glatt, formt so etwas wie einen Kussmund, legt den Kopf schief, schließt die Augen, reißt sie auf, verharrt dann mit verführerischem Blick und drückt ab.
Ich zucke zusammen ob des blitzschnellen Geschehens neben mir. Sehe noch das Selfie, das sie soeben gemacht und in Windeseile bearbeitet hat. Sprich, das Foto mit Weichzeichner und Glorienschein auf Sepia getrimmt und gepostet hat, um in der nächsten Sekunde zu switchen und in einer anderen App ein Kuss-Smiley zu verschicken.
Neben Lena murmelt es: „Lena real now? Das sieht übelst billig aus!“, vom anderen Ende des Raumes schallt es: „Sowas von krass billig!“, es beginnt auf den Sitzen zu summen und brummen: „Duckface!“, „Einfach nur grinch, ich schwör“, „Sus!“
Lena: „Der Filter auf Snap ist halt auf meinem Drecks-Handy echt Scheiße Alter, ich weiß, dass das nicht crushed, fuckt mich ja selber ab, aber besser als nix!“
Da kommt Leben in die Runde – „Poste das ja nicht auf Insta!“, „Sepia! Wie oldschool ist das denn?“
Es rieselt likes und dislikes.
Ich blicke mich um – verstehe gar nix – sitze in einem böhmischen Dorf!
Alle schauen auf ihre Bildschirme, manche gelangweilt vor sich hin und ein paar kommentieren weiter.
Bis ich es schnalle: „Ihr sitzt IN ECHT nebeneinander hier und chattet?!“ Die Worte kullern fassungslos und etwas zu laut, ungebremst aus meinem Mund.
Jetzt richten sich einige Augenpaare auf mich, ebenfalls erstaunt, als wäre ich hier die Außerirdische.
„Na was glaubst du denn, wir sind schon connected und chatten tun wir sicher nicht, was ist das überhaupt, oldschool-speech?!“
Ich sitze und schaue in ein Augenpaar ums andere, manche blitzen, manche sind stumpf, dann bricht es aus einem Mädel raus: „Weißt du eigentlich wie wichtig das ist, alle Freunde und Kanäle am Schirm zu haben – ich kann es mir nicht leisten stundenlang offline zu sein!“
Es knistert, es knackt – das Eis bricht… die Geschichten beginnen langsam zu sprudeln.
Eines der Mädchen berichtet sodann von DER Katastrophe, als sie mit ihren Eltern im Urlaub am Berg war, keinen Empfang hatte und 2 ganze Tage ihre Social Media nicht pflegen konnte, nach diesen zwei Tagen war sie aus ihrer Peer-Gruppe raus und hatte echte Probleme wieder reinzukommen, da ihre BFF meinte, sie hätte sich etwas angetan und sie habe sich solche Sorgen gemacht und dann sei sie draufgekommen, dass sie sie nur verarscht habe und locker mit ihren Eltern gechillt habe.
Eine ähnliche Geschichte hat auch ein weiteres Mädel zu berichten, sie habe auf eine Whatsapp 15 Minuten lang nicht geantwortet, daraufhin haben sie ihre friends nicht mehr in den Club mitgenommen am Wochenende und sie musste zu Hause versauern.
Dramatisch geht die nächste Geschichte weiter, eine Freundin eines Mädchens aus der Runde hat die Nachricht von ihrem Freund bekommen über Snap, dass Schluss ist. Diese hat sofort ihre Freundin benachrichtigt und wollte gleich zu ihr kommen, da sie nicht innerhalb von Minuten geantwortet hat, hat die Verlassene mit Selbstmord gedroht und ihre letzten Worte getippt: „Du bist die Einzige, die davon weiß, ich schleich mich jetzt!“
Die letzten Smartphones sinken in die Schöße und praktisch jedes Mädchen im Raum hat nun eine Geschichte zu erzählen. Von versäumten, übersehenen Posts, Kommentaren und Mitteilungen in der Cyberwelt, die Aufregungen und Katastrophen ausgelöst haben. Von peinlichen Schnappschüssen und Clips, die online und viral gegangen sind und unlöschbar im Netz und in den Köpfen sind. Gossip, Mobbing und Blaming. Alles ganz furchtbar und alltäglich, unvergesslich und doch nicht langlebig.
Ich sitze und höre zu, versuche den verschiedenen Erzählsträngen zu folgen, stelle keine Fragen, denn es sind zu viele in meinem Kopf, die ich nicht schnell genug geordnet und priorisiert bekomme.
Es tauchen Schlagworte in mir auf wie detoxen-dringend! Medienverwahrlosung, Medienoverkill, was für ein Stress, was für ein Druck!
Dann noch „Ihr gehört alle miteinander in den Wald! Für ein Wochenende, ohne Empfang, besser eine Woche, noch besser ein MONAT! Aber wirklich jetzt!“, schreit es in mir. Ich bleibe ruhig und höre weiter zu.
Da hält mir Lena ihr Phone unvermittelt vor die Nase und sagt voller Ergriffenheit mit einem Hauch Stolz: „Schau mal! Meine beste Freundin! Cool oder?“
Ich sehe eine superdurchgestylte, junge Frau, makellos. Eine Bilderflut wischt an meinen Augen vorbei, ich spüre wie sich eine Traube von Köpfen um uns bildet, die alle mitschauen und beeindruckte Kommentare teils gemurmelt, teils laut sich mitteilen über die gelungene Performance dieser jungen Dame. Durchwegs ansprechende Bilder von der schönen, jungen Frau, durchgehend makellos und dem gängigen Schönheitsideal, sowie ich höre, entsprechend in den verschiedensten Lebensszenen, die sich ein Teenager erträumen kann – richtig hype! Dieses Leben möchte jeder haben!
Ich staune und frage: „Und, wer ist das, wie heißt deine beste Freundin?“ Lena schaut mich entgeistert, fast fassungslos an, hebt das Kinn und deutet auf das Mädchen, das neben ihr sitzt, und antwortet: „Na das ist die Sophie, hast du nicht geschaut oder was?“
Viele Blicke auf mir – vorwurfsvoll.
Ich drehe meinen Kopf und schaue auf besagtes Mädchen. Ich sehe eine durchschnittliche, durchaus nett anzusehende 15jährige. Normal pickelig, normal gewachsen, normal haarig, leicht geschminkt, normal-modisch gekleidet, wie halt jetzt jedes Mädel gekleidet ist, normal manikürt, normal, fast verlegen schauend.
Ich muss nochmal auf Lenas Phone schauen – DAS ist die selbe junge Dame?! Echt?
Ich traue meinen Augen kaum. Da lächelt mich besagte Sophie an – ich ziehe Luft tief in meine Lungen, um nicht in Schnappatmung oder ein lautes, ungläubiges Lachen zu fallen. Ein kleines Zahnspangenmonster, so wie es sich für eine klassische 15jährige ziemt, sitzt vor mir!
Ich kann nicht anders, nehme Lena das Handy aus der Hand und halte es neben Sophie, um den direkten Vergleich zu haben – 11 Augenpaare folgen meiner Bewegung.
Rechts die makellose Cyber-Sophie auf dem Bildschirm, links die Real-Sophie vor mir.
Was soll ich sagen… „Aha! Das bist also du!“
Sophie strafft sich, wirft sich in Pose, in die selbe die ich auf dem Bildschirm sehe und sagt mit fester Stimme: „Ja!“
Kurz frage ich mich: „Was sehen die, was sehe ich? Das ist nie und nimmer dasselbe Mädel!“
Wortlos lasse nun ich das Handy sinken. Schaue in die mich umgebenden Gesichter und sage „Ah ja!“
Zustimmendes Nicken umgibt mich, die meisten sind zufrieden mit meiner Reaktion.
Ich bleibe still und frage mich, welche der beiden Sophies ist jetzt echter für die Mädels in dieser Runde hier?
„Ja, die Sophie performed really good! Voll gut! Einfach nur slay, Mädchen!“, sagt Lena noch.
Ich staune still, sehe größtenteils Zustimmung in der Runde, nur ein paar enthalten sich.
Und ich denke mir – IN ECHT JETZT?
Abspann:
Die 6 Stunden waren dann schnell herum, fast zu kurz war der Tag, der im Auftrag von Suchtprävention begann und mit Geschichten aus dem Cyberalltag gefüllt wurde. Mein supertoller Methodenkoffer blieb geschlossen. Der von meinem Kollegen übrigens auch, denn bei den Burschen ging es hauptsächlich um Onlinespiele – er hatte Ahnung davon mit seinen jungen 30 Lenzen – er spielt auch. Ich ging nach Hause mit einem neu gefüllten Koffer mit Geschichten.
Ich liebe meine Arbeit!